Wir weigern uns, Feinde zu sein

Luftballone
Luftballone_Friedensbotschaften


Zwischenruf von Thomas Hennefeld (ORF)

Wir weigern uns, Feinde zu sein

Ich sehe vor mir: bunte Ballons mit Friedensbotschaften, die in den Himmel steigen, Kinder in einem Klassenzimmer, die gemeinsam lernen, auch die Sprache des anderen. Einen Weg, der zu einem Zelt führt, am Eingang ein Stein mit der Aufschrift: „Wir weigern uns, Feinde zu sein“, Jugendliche auf einem Ferienlager, ins Gespräch miteinander vertieft, manchmal streitend, dann wieder gemeinsam lachend. Frauen, die zuerst in eisiger Atmosphäre einander gegenübersitzen, langsam auftauen und miteinander ins Gespräch kommen und zuhören, was die andere zu erzählen hat, Männer, die gemeinsam im Klassenzimmer stehen und ihre Geschichten erzählen.

Das alles wäre noch nicht so aufregend und besonders, aber diese Menschen kommen aus miteinander verfeindeten Völkern. Diese Bilder und Geschichten kamen mir in den Sinn, als ich vor über einer Woche von den ersten Gräueltaten der Hamas in Israel erfuhr. In einem Meer von Gewalt, Hass und Fanatismus habe ich Menschen kennengelernt, die eine Mission hatten: dem Frieden zu dienen, ihm nachzujagen.

Schulpartnerschaften zwischen israelisch-jüdischen und palästinensischen Schulen mit gemeinsamen Projekten, solange das möglich war, darunter auch die bunten Ballons, deren Friedensbotschaften Kinder auf der anderen Seite der Mauer lesen sollten. Eine Schule in Jerusalem, die jüdische und palästinensische Kinder gemeinsam besuchen und dort hebräisch und arabisch lernen. Eine christliche Familie, die ein Grundstück besitzt, von dort vertrieben werden soll, immer wieder von Siedlern angegriffen wird und trotzdem das Motto hat: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Eine Frauenorganisation, deren Mitglieder in Südisrael und in Gaza leben und die sich in den vergangenen Kriegen zwischen Israel und der Hamas informiert haben, wie es der jeweils anderen geht und was sie gerade erleidet.

Der sogenannte „Parents Circle“ (Families Forum), eine Initiative israelischer und palästinensischer Menschen, die Familienmitglieder durch Gewaltakte verloren haben, Kinder, Geschwister, Eltern. Anstatt Rache zu schwören, schwören sie der Gewalt ab und tun sich mit Angehörigen der Gegenseite zusammen, erzählen einander von ihrem Leid.

Die derzeitige israelische Regierung hat im Frühjahr beschlossen, das Programm nicht mehr zu unterstützen, weil es nicht den Werten der Regierung entspreche. Dabei würde man ein solches Netzwerk nach diesem Krieg ganz besonders brauchen. Natürlich wird es jetzt, in Zeiten der verheerenden Gewalt, von vielen als naiv oder gar zynisch eingestuft, wenn man vom Frieden spricht. Mit Luftballons gegen Raketen – blauäugiger geht es ja wohl nicht…

Aber irgendwann – und ich hoffe inständig eher früher als später – wird es dazu kommen, die Waffen schweigen zu lassen. Auch die schrecklichsten Kriege finden ihr Ende. Und spätestens dann wird es die brauchen, die jetzt als naive Utopisten dargestellt werden. Im Evangelium heißt es über diese: „Selig, die Frieden stiften. Mein Herz schlägt für diese Initiativen, weil sie in all dem Wahnsinn der Gewalt und des Blutvergießens neue Hoffnung aufkeimen lassen, Träume entstehen lassen von dem, was die Bibel als Schalom bezeichnet. Daran will ich festhalten. Auch und gerade in diesen Tagen.

Thomas Hennefeld, Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich
15. Oktober 2023, 06:55
ORF Zwischenruf Thomas Hennefeld