„Wir sind unsere Berge!“ Die verdrängte Katastrophe in Karabach

Lage Bergkarabachs in der größeren Region Karabach, die sich über Armenien und Aserbaidschan erstreckt. Bergkarabach ist eine bis zu deren Flucht im September 2023 mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus. © wikimedia Commons
Lage Bergkarabachs in der größeren Region Karabach, die sich über Armenien und Aserbaidschan erstreckt. Bergkarabach ist eine bis zu deren Flucht im September 2023 mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus. © wikimedia Commons

Wieso ausgerechnet das ferne Österreich in der totalen Depression der aktuellen Karabach-Katastrophe so etwas wie Hoffnung vermittelt. Ein kulturhistorischer Erklärungsversuch des Schriftstellers Herbert Maurer.

Armenien, „Hayastan“, kurz vor dem Erdbeben und dem ersten Karabachkrieg: Ein idyllisches, etwas herbes Land im Südkaukasus, die Bevölkerung kulturbeflissen, kreativ und gastfreundlich. Wer in den späten 80er Jahren zur Zeit des sowjetischen Tauwetters in Yerevan, der Hauptstadt der „Armenischen SSR“, im Kaffeehaus saß und sich als Österreicher outete, dem wurde mit dem besten Cognac auch das geflügelte Wort „Menk enk mer sarere – Menk enk ev Avstria“ („Wir sind unsere Berge – Es gibt uns … und Österreich“) serviert, Umarmungen von Mann zu Mann inklusive. Mit diesem Zitat aus einem der bekanntesten armenischen Spielfilme hat es folgende Bewandtnis: Zu Beginn des Filmes, basierend auf einer Novelle von Hrant Matevossian, des prominentesten Vertretens des neuen Realismus, sitzen zwei Hirten in der Nacht in der kargen Berglandschaft am Lagerfeuer, verzehren ein halbes Schaf und schauen in den Sternenhimmel. Um sich im Universum zu orientieren und in der Einsamkeit kulturhistorisch richtig zu navigieren, brauchen sie Fixsterne. Armenien – logisch, aber: Wer oder was denn sonst noch? „Avstria“ ist die einfache Antwort auf die sehr komplexe Frage nach der Verortung im Unendlichen. Warum gerade Österreich, diese Frage wird gar nicht erst gestellt, es ist eben so, die Welt ist in Ordnung.

Das Ende der Pax Sovjetica

Mehr als dreißig Jahre später, nach einem verheerenden Erdbeben mit 30.000 Toten, zwei Kriegen um die armenische Enklave Berg Karabach im benachbarten Aserbeidschan mit weiteren zehntausenden Toten und hunderttausenden Vertriebenen, nach vielen Jahren eines desaströsen zivilen und wirtschaftlichen Niedergangs, quasi am Ende der Welt oder im letzten Winkel eines zerborstenen Riesenreiches mit seiner relativen oder repressiven Friedlichkeit, erfährt dieses „Wir sind unsere Berge“ ein traurig-trotziges Revival (von Österreich ist nun nicht mehr so die Rede, die ferne Alpenrepublik ist eben – im Vergleich – doch viel zu selig, viel zu weit entfernt, bleibt aber doch irgendwie ein Sehnsuchtsort, ein kultureller Referenzpunkt). Da und dort mögen wohl noch Hirten in den Bergen sitzend in den Himmel schauen, nun aber sind es vor allem Soldaten, die den territorialen Rest von Berg (Nagorny) Karabach, zu verteidigen versuchen. Von der Außenwelt ist diese mittlerweile selbsternannte Republik mit ihren 120.000 Einwohnern abgeschnitten, seit die Aserbeidschaner ab dem 12. Dezember 2022 den Versorgungskorridor über das Städtchen Latchin blockieren. Der Präsident Arajk Haroutjounjan meldet sich in immer kürzeren Abständen mit Appellen an die Weltöffentlichkeit. Die Schutzmacht Russland ist mit anderen Problemen beschäftigt und nimmt ihren Auftrag zur Wahrung der Sicherheit nicht wirklich wahr. Die UNO, die EU sind alarmiert und involviert, das Rote Kreuz tut, was es kann, um den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung wenigstens hinauszuzögern. Der frühere Chefankläger des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, Luis Moreno Ocampo, sprach am 9. August bereits von Völkermord. Welche politischen Implikationen hier zu beachten sind, welche Perspektiven es, wenn überhaupt, noch gibt, das beleuchtet hier der internationale Experte Vahan Zanoyan in einem detailreichen Kommentar.

Und du, glückliches Österreich … ?

Was aber bleibt nun in dieser Ausweglosigkeit von dieser Vision der Hirten aus einer anderen Zeit und diesem „Wir sind unsere Berge“? Wenn Österreich als „internationaler Player“ in diesem Konflikt, dieser fatalen geopolitischen Patt-Situation definitiv nichts zur Lösung beitragen kann, war das Land immerhin auf kulturpolitischer Ebene seit jeher ein enger Verbündeter der Armenier. Was aber nützt das wem, wenn Menschen verhungern und die Hoffnung auf eine Lösung des gordischen Knotens nach und nach schwindet? Ob in der Zeit nach dem Erdbeben durch Wiederaufbauhilfe oder in den ersten Jahren der neuen unabhängigen Republik durch diplomatische Unterstützung bis hin zur Anerkennung des Völkermord durch unser Parlament: Es gab und gibt stets den Grundkonsens zwischen den beiden Nationen, dass es ein Kontinuum der kulturellen Identität gibt. Genau das ist für die Armenier, die sich vor allem durch ihre literarisch-religiös-musikalische Tradition definieren, überlebenswichtig. Und wenn es – hoffentlich – auch andere Nationen gibt, die sich in diesem Konflikt diplomatisch und humanitär einbringen, wird dieses „Menk enk – ev Avstria“ („Es gibt uns … und Österreich“) auch weiterhin seine Gültigkeit behalten. Es soll aber nicht bei Umarmungen bleiben. Wo Österreich auf dem internationalen Parkett eine Stimme hat, dort möge es diese erheben.

HERBERT MAURER
Schriftsteller, Publizist und Übersetzer.
Der Sprachwissenschafter und Experte für den
Kaukasus lebt in Wien.
herbertmaurer@gmx.net