„Wiedergeborene Freiheit“ – Kant und der Pietismus

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2024 jährt sich der Geburtstag des bedeutenden Philosophen Immanuel Kant (gest. 1804) zum 300. Mal.

Kant ist als bedeutender Philosoph der Aufklärung, für die Formulierung des kategorischen Imperativs („handle stets…“) oder seine Erkenntnistheorie bekannt. Gegenüber christlichem Glauben und Kirche nahm er eine ambivalente Haltung ein und stellte den etablierten Formen sein Konzept einer „Vernunftreligion“ gegenüber.

Glaube und Kirche in Kants Leben

Gleichwohl war Kant biographisch stark evangelisch geprägt, vor allem seine Mutter erzog ihn im christlichen und lutherischen Sinn. Auch mit dem reformierten Protestantismus kam Kant zeitweise in Berührung; nach dem Tod des Vaters verdiente er den Unterhalt für die Familie als Hauslehrer bei einem reformierten Pfarrer im Königsberger Umland.

Ausdruck einer persönlichen Gläubigkeit Kants ist etwa seine Namensänderung – seinen eigentlichen Taufnamen Emmanuel änderte er mit 22 Jahren auf Immanuel, da er darin den hebräischen Sinn – „Gott mit uns“ – als besser erkennbar befand.

Nichtsdestotrotz war seine Haltung gegenüber der überlieferten Form des Glaubens und der Religion durchaus kritisch; so sah Kant die Bibel nicht als von Gott inspiriert an, empfand Beten als sinnlos und nahm nicht am Gottesdienst teil.

Der Pietismus

Ein besonders spannungsreiches Verhältnis hatte Kant zu den Ansichten des Pietismus.1
Dieser Pietismus war und ist eine Frömmigkeitsbewegung, die besonders den persönlichen, individuellen und lebendigen Glauben, die innere Wandlung des Menschen, verstanden als Wiedergeburt, und eine völlige Durchdringung des Lebens durch die Religion in den Mittelpunkt stellt, Dogmen, Konfession, akademischer Theologie und kirchlichen Strukturen hingegen weniger Bedeutung beimisst.

Seine Grundlage findet der Pietismus, der sich vielfältigen Formen entwickelte, im Denken und der Theologie von Philipp Jacob Spener (1635-1705). Dieser hatte mit seiner Schrift „Pia desideria“ (1675) den Auftakt für die Reformbewegung gegeben.

Distanz und Nähe

Kant stand dem Pietismus, wie er ihn in Königsberg kennengelernt hatte, grundsätzlich kritisch gegenüber. In Schriften und Vorlesungstexten finden sich mehrere spöttische und ablehnende Stellen. So bezeichnet er die Pietisten als „Sectirer“, „Schwätzer“ oder „Störer des allgemeinen Wohlwollens“, wirft ihnen „bei allem Schein der Demuth stolze Anmaßung“ vor, oder dass sie durch „Buskampf, Zerknirschung und aller Selbstpeinigung […] eigene Satisfaction leisten wollen.“

Die Ablehnung von Erwählungsgedanken, Separatismus und gewissen religiösen Ausdrucksform heißt aber nicht, dass Kant vom Pietismus unbeeinflusst gewesen ist. Das gilt besonders für die Theologie Speners, die nicht nur in der Übernahme spezifisch pietistischer Termini (bspw. „Herzensänderung“), sondern etwa auch die Parallelen zwischen dem, im Pietismus zentralen, Gedanken der Wiedergeburt und der bei Kant durchaus ähnlichen moralischen Umwandlung des Menschen, Wirkung zeigte, wenn auch das zugrundeliegende Verständnis von Vernunft differiert.

Gleiches gilt für die Motivationstheorie – also der Frage, warum Menschen so handeln, wie sie es tun. In beider Konzept spielt vor allem das „moralische Gesetz“ eine zentrale Rolle. Dessen übernatürlicher Charakter und allgemeine Gültigkeit werden von Spener wie Kant als notwendigerweise gegeben verstanden. Für die Möglichkeit dieses Gesetz zu erkennen ist ebenfalls bei beiden der freie Wille und die Vernunft als eine im Menschen angelegte Voraussetzung notwendig.

Während die Willensfreiheit bei Spener mit der geistlichen Wiedergeburt verbunden ist, sieht Kant sie als zweiten Schritt nach der „Freiheit vom Zwang“ und – wie Spener – als der Handlungsfreiheit überlegen an. Der wahrhaft freie Mensch ist der, der „wollen kann, was er will“. Eine Autonomie, die sich in Zusammenführung der beiden Denker als „wiedergeborene Freiheit“ zeigt.

Leopold Potyka

1 Das Folgende bezieht sich auf Anna Szyrwinskas Dissertation „Wiedergeborene Freiheit“ (Wiesbaden 2017).