„Gerechter Richter Gott“ – eine Andacht von Angelo Comino

Barmherzigkeit, Jurakalkskulptur (Marcel_Perincioli 1954)_wikimedia

Gerechter Richter
Und sie schrien mit großer Stimme: Herr, du Heiliger
und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht
und rächst nicht unser Blut an denen,
die auf der Erde wohnen? (Offenbarung 6,10)


Der HERR richtet die Völker.
Schaffe mir Recht, HERR, nach meiner Gerechtigkeit,
und nach meiner Unschuld geschehe mir.
Zu Ende gehe die Bosheit der Frevler,
doch dem Gerechten gib Bestand, du, der du die Herzen und Nieren prüfst, gerechter Gott.
Mein Schild ist Gott,
der denen hilft, die aufrichtigen Herzens sind.
Gott ist ein gerechter Richter
und ein Gott, der täglich zürnt.
(Psalm 7,9-12)

Die moderne Betonung der Selbstbestimmung des Individuums hat in der christlichen Theologie die Vorstellung verdrängt, Gott agiere auch als Richter. Sich vor Gott verantworten zu müssen, erscheint dem aufgeklärten Menschen zu obskur und schauderhaft, ein richtendes Handeln Gottes als unzumutbare Bevormundung und inakzeptable Fremdbestimmung. Die Angst vor der mittelalterlichen Glaubenswelt sitzt allerdings der falschen Alternative zwischen Autonomie und Heteronomie auf und verabscheut ein auf Gerechtigkeit und Erbarmen beruhendes Regieren Gottes über Weltordnung und Schöpfung. Die Ausblendung gewichtiger biblischer Texte, die missverstandene Rolle eines göttlichen Richters (bzw. Richterin!) und die einseitige Betonung des Freiheitsgedankens führen paradoxerweise zu einer Vertauschung der Rollen: Nun wird Gott die Kompetenz abgesprochen, über Gut und Böse zu urteilen, und muss sich selbst vor der menschlichen Vernunft rechtfertigen. Der Richterstuhl Gottes bleibt somit im besten Fall leer, im äußersten Fall wird er vom Menschen besetzt.

Wenn der Mensch jedoch noch an Gottes Existenz und Fürsorge festhalten will, wird er oder sie den biblischen Fundus nicht außer Acht lassen, der Richten, Gerechtigkeit und Erbarmen eng miteinander verbindet. Das biblische Gedankengut kennt keine der menschlichen Willkür vorbeugende Gewalteneinteilung. Der Gott, der über Weltordnung und Schöpfung regiert, richtet auch darüber, wie damit umgegangen wird. Der Gott, an den Menschen im Falle der Beugung des Rechts ihre Gebete richten können, schafft Gerechtigkeit und erweist Erbarmen. Ein herrschender Richter ist somit auch zugleich richtender Retter und rettender Herrscher, der nicht unparteiisch bleibt, sondern gerade für die Wehrlosen, Armen, Schwachen, usw. Partei ergreift.

Der menschlichen Vernunft kommt die Aufgabe zu, sich auch moralisch zu betätigen, indem sie nach dem göttlichen Muster für Gut und Böse einsetzt. Ihr wird nicht abgesprochen, religiöse Grundaussagen zu bewerten und kritisch zu hinterfragen. Allerdings entzieht sich ein aus Eigenregie handelnder Mensch den Konsequenzen seines Handelns, wenn er den Richterstuhl einnimmt. Der handelnde Mensch begibt sich in ein Rechtsvakuum, in dem er oder sie über sich selbst urteilen muss und am Versuch scheitern kann, die Weltordnung und die Schöpfung zu wahren. Der im Gebet erbetene Appell wird an einen von der Vernunft entmachteten Gott gerichtet. Dadurch wird die tiefe Zwiespältigkeit der beanspruchten Selbstbestimmung umso deutlicher.

Angelo Comino