Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise

These 5
These 5

21.10.2016 – Auf der Schwelle zum 500-jährigen Reformationsjubiläum im Jahr 2017 haben einige Theologen verschiedener Konfessionen unter der Federführung von Prof.Dr.Ulrich Duchrow 94 Thesen erarbeitet, angelehnt an Luthers 95 Thesen. Die Absicht war, sich kritisch mit der Reformationsgeschichte auseinander zu setzen, und – herausgefordert von der biblischen Botschaft – die Reformation für die heutige globalisierte Welt relevant zu machen. Wir möchten Ihnen einige dieser Thesen vorstellen.

1

Biblisch gesehen ist die erste und eigentliche Tat Gottes Befreiung. Auch die messianische Befreiung im Neuen Testament ist nach dem Muster des Exodus gestaltet. Im Römerbrief geht es Paulus darum, dass Christus Befreiung von der „Schreckensherrschaft der Sünde“ im Kontext des Römischen Reiches bringt (Röm 5,12-8,2). Wird Rechtfertigung dagegen nicht im Exodus-Muster verstanden, sondern wie weithin üblich in der Linie Augustin/Anselm von Canterbury auf (Ur-)Schuld und Vergebung reduziert, bedeutet das eine problematische Verengung mit erheblichen Verlusten gegenüber dem sozialen und politischen Reichtum der Bibel.

5

Mindestens zwei Milliarden Menschen sind verarmt unter der Herrschaft des Geldes. Diese ist der heutige Ausdruck des Mammon und damit die zentrale Herausforderung des Glaubens. Geld ist inzwischen nicht einfach das von den Zentralbanken gedruckte Bargeld in der Tasche, sondern Geschäftsbanken haben das Recht, über Kredite grenzenlos mehr zinsbelastetes Schuldgeld zu schöpfen. Schon Luther nennt Mammon den allgemeinsten Gott auf Erden (Großer Katechismus zum 1. Gebot).

7

„Das Land darf nicht unwiderruflich verkauft werden, denn mir gehört das Land, und ihr seid Fremde und Leute mit Bleiberecht bei mir” Lev 25,23. Eigentum ist also nur für den Gebrauch zum Leben gedacht. Im Gegensatz dazu macht der Kapitalismus das Privateigentum absolut und beginnt deshalb mit der Einzäunung gemeinsamen Landes und aller natürlichen Ressourcen. Das setzt sich heute u.a. in der Privatisierung (Patentierung) des genetischen Gemeinguts der Menschheit, des Landes (land grabbing), des Wassers, der Luft usw. fort.

21

Luthers Lehre von den zwei Reichen und Regimenten wurde in der späteren Wirkungsgeschichte weitgehend zur Rechtfertigung des Quietismus und des Untertanengehorsams (nach Rö 13,1) missbraucht. Sie muss deshalb neu interpretiert werden als Ruf zu politischer Wachsamkeit und zum Engagement der Christinnen und Christen, damit sie ihre öffentliche Verantwortung für die „Nächsten“ wahrnehmen, indem sie sich für Gerechtigkeit, Frieden und die Befreiung der Schöpfung einsetzen.

25

Das Kreuz war das Hinrichtungsinstrument des römischen Imperiums, insbesondere für Rebellen und entlaufene Sklaven, dem abertausende unschuldige Menschen zum Opfer seiner öffentlichen Machtentfaltung gefallen sind. Das Bild eines Gekreuzigten mit der Gasmaske oder einer gekreuzigten Frau und die Darstellung eines gekreuzigten Campesino erinnern daran, dass bis heute viele Menschen auf vielfältige Weise den herrschenden Mächten zum Opfer fallen, und der gekreuzigte Jesus mit ihnen allen zutiefst verbunden ist.

21

Luthers Rechtfertigungstheologie muss in verschiedenen Zeiten und Orten ausgeweitet und erneuert werden, insbesondere im Licht von Luthers Begriff des Evangeliums als der lebendigen Stimme Gottes. Die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung muss aus der Einkapselung in den westlichen possessiven Individualismus und politischen Quietismus ausbrechen, indem sie die Menschen von all dem befreit, was sie Götzen unterwirft: Privilegien nach Art und Geschlecht, nach Volkszugehörigkeit, Religion, Nationalität und Klasse. Rechtfertigung muss wiederentdeckt werden als der Ausdruck für Gottes tiefes Mitleiden für alle im Tod Jesu. Dadurch wird dann unsere öffentliche Verantwortung für politische und wirtschaftliche Gerechtigkeit und für die Anerkennung „der Anderen“ verstärkt.

25

Mutter Erde wird gegenwärtig gekreuzigt und muss Auferstehung erfahren (Röm 8,18-22). Das ist zentral wichtig für uns Menschen, die Tiere, Pflanzen, Luft, Wasser und Erde. Wir sind Menschen nicht, weil wir konsumieren, sondern weil wir in Verbindung mit der Schöpfung leben und für ihr und unser Wohlsein sorgen müssen.

59

Die Gerechtigkeit Gottes führt Paulus zur visionären Einsicht, dass “in Christus” die Gegensätze und Hierarchien der „gegenwärtigen bösen Weltordnung” (Gal 1,4) außer Kraft gesetzt sind. “Wir” sind nicht das, was uns von den anderen abgrenzt, sondern mit ihnen verbindet. Die menschlichen Gegensätze von Nation, Religion, Geschlecht, Klasse, die das Selbst als Feind und Rivalen des anderen konstituieren, werden in der Taufe “abgelegt” wie alte Kleider. Eine neue Praxis des Einswerdens durch Miteinander und Füreinander bringt eine neue Form des Menschseins und der Welt hervor. (Gal 6,2.15) “Hier ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich, sondern Ihr seid alle eins in Christus” (Gal 3,28). Damit sind Gottes Gerechtigkeit, die Rechtfertigung des Menschen und menschliche Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden.

65

Das Negativurteil über Judentum und Gesetz trug maßgeblich auch zu einer grundsätzlichen Abwertung des gesamten Alten Testaments bei. Die trinitarische Formel von Vater, Sohn und Heiligem Geist als gemeinsames Zeugnis aller christlichen Kirchen bezeugt die unauflösliche Verbindung zwischen den beiden Teilen des biblischen Kanons. Die Einheit der beiden Testamente zurückzugewinnen, ist eine weitere grundlegende Aufgabe reformatorischer Theologie heute.

71

Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang Luthers Identifikation der Zehn Gebote (Dekalog) mit dem Naturrecht dar (Mose als „der Juden Sachsenspiegel“). Dadurch verwischt er die Besonderheit der Tora als alternatives Recht, das in entscheidenden Punkten von den Gesetzeswerken ihrer Umwelt abweicht – etwa im Blick auf die Sabbatgesetzgebung, den Schuldenerlass, das Verbot der Akkumulation durch Gier (zehntes Gebot), den Schuldenerlass. Diese kritische Stoßrichtung geht verloren, wenn die Tora gleichgesetzt wird mit jedwedem positiven Recht wie etwa dem das private Eigentum verabsolutierenden Römischen Recht.

93

Wir brauchen eine”neue Reformation”. Jetzt wie damals können Leute leicht fromm sein. Aber diese Frömmigkeit drückt sich oft in unangemessenen Formen aus, weil Kirchen oft von der realen Situation, in der Menschen leben, entfremdet sind. Wie seinerzeit Luther brauchen wir eine Erneuerung der Sprache, eine Rückkehr zur befreienden Botschaft des Evangeliums.

94

Bonhoeffers Vorschlag einer in der Welt engagierten Christenheit, welche eine neue Sprache für das alte Evangelium entdeckt, muss übersetzt werden als „Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen“ (Bonhoeffer). Alle kirchliche Rede muss von diesem Gebet und diesem Tun her neu eingeübt werden. Genau darauf insistiert Befreiungstheologie, indem sie auf der Untrennbarkeit von Orthopraxis und Orthodoxie besteht.

Halle, 7. August, 2014
Copyright © 2016 Radicalizing Reformation