„Auf dem Weg zur Krippe 9. Tag“ – 7. Dezember 2020

von Richard Schreiber

DER WEG ZURÜCK

Es war einmal,
etwa drei Tage vor Weihnachten, spät abends.
Über den Marktplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen.
Sie blieben an der Kirche stehen und sprühten auf die Mauer „Ausländer raus“
und „Dahaam statt Islam“.
Steine flogen in das Fenster des türkischen Ladens.
Dann zog die Horde ab.
Gespenstische Ruhe.
Die Vorhänge an den Häusern in der Umgebung waren schnell wieder zugezogen.
Niemand hatte etwas gesehen.

„Los, komm, es reicht, wir gehen!“ –
„Wo denkst du hin! Was sollen wir denn da unten im Süden?“ –
„Da unten?
Das ist immerhin unsere Heimat.
Hier wird es immer schlimmer.
Wir tun, was an der Wand steht:
„Ausländer raus“!

Tatsächlich, mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt.
Die Türen der Geschäfte sprangen auf:
Zuerst kamen die Kakao-Päckchen,
die Schokoladen und Pralinen in ihren Weihnachtsverkleidungen.
Sie wollten nach Ghana und Westafrika, denn da waren sie zu Hause.
Dann der Kaffee, palettenweise! Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat.
Ananas und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und Erdbeeren aus Südafrika.
Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf, Pfeffernüsse, Spekulatius und Zimtsterne,
die Gewürze in ihrem Inneren zog es nach Indien.
Der Christstollen zögerte.
Man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab: Mischlingen wie mir geht es besonders an den Kragen. Die Herkunft zählt!

Der Verkehr brach an diesem Tag zusammen.
Lange Schlangen japanischer Autos, voll Optik und Unterhaltungselektronik,
krochen gegen Osten.
Am Himmel sah man Weihnachtsgänse nach Polen fliegen, auf ihrer Bahn gefolgt von den Teppichen des fernen Asiens.
Man musste sich vorsehen, um nicht auszurutschen, denn von überall her quollen Öl und Benzin hervor, flossen in Richtung Naher Osten.
Autos begannen sich aufzulösen, das Aluminium wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia,
Eisenteile nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire.
Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade rechtzeitig zum Weihnachtsfest.

Nichts Ausländisches war mehr im Land.
Aber Tannenbäume gab es noch,
Äpfel und Nüsse.
Und „O du fröhliche“ durfte gesungen werden – zwar nur mit Extragenehmigung,
denn das Lied kam aus Deutschland.

Nur eines wollte nicht ins Bild passen.
Maria, Josef und das Kind waren geblieben.
Drei Juden.
Ausgerechnet.

„Wir bleiben“, sagte Maria
„wenn wir aus diesem Lande gehen –
wer will ihnen dann noch den Weg zeigen,

den Weg zurück zur Vernunft
den Weg zur Menschlichkeit?“

Impulse … auf dem Weg zur Krippe 2020 – Die Synodalen und Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelischen Kirche H.B. teilen Gedanken zum Rückzug, zum Umgang mit Unsicherheit, zum Umgang mit Gefahr, zur Solidarität mit anderen, zum Gottvertrauen in diesem Advent. Teilen und Weitergeben ausdrücklich erlaubt.