Anlässlich des 100 Jahre-Jubiläums der drei Reformierten Pfarrgemeinden in Wien, fand am 13.11.2024 in der Erlöserkirche in der Wielandgasse im 10. Bezirk, ein Vortrag von Univ.-Prof. Ulrich Körtner statt. Wir bedanken uns ganz herzlich für die Möglichkeit, diesen Text abzudrucken.
1. Kirche des Wortes – Kirche der Freiheit
Auf die Frage, was eigentlich reformiert ist, gab ein reformierter Oberkirchenrat aus meiner Heimatkirche, der schon lange nicht mehr lebt, stets die Antwort: „Reformiert ist, wie es bei uns ist!“ Damit wollte er zum Ausdruck bringen, wie vielfältig doch die reformierte Tradition ist. Vielfalt ist geradezu ein Merkmal des Reformiertentums, auch wenn wir uns in unseren eigenen Gemeinden in ganz Österreich umschauen. Auch die Wiener reformierten Gemeinden, die heuer ihr 100jähriges Bestehen feiern, aber ihre Geschichte bis in die Reformationszeit zurückverfolgen können, haben in Gottesdienst und Gemeindeleben unterschiedliche Prägungen. Sie zeigen sich nicht nur in theologischen Fragen oder in der Art, wie der Gottesdienst gefeiert wird, sondern hängen auch mit der Geschichte ihres Entstehens zusammen. Seit der Reformationszeit gab es ein reformiertes Christentum im heutigen Österreich. Mit dem Toleranzpatent von Josef II. wurden neben den Lutheraner auch die Reformierten ausdrücklich als eigene Konfession anerkannt. Durch den Zuzug von Menschen aus den ehemaligen Kronländern, aus Böhmen und Mähren und aus Ungarn erhielt das Reformiertentum einen Zuwachs an Gemeindegliedern, die eine eigene kulturelle Prägung hatten und deren Muttersprache nicht Deutsch war. Aber auch heute gehören zu unseren Gemeinden Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Diese Vielfalt macht uns aus, und sie ist ein Gottesgeschenk.
Bei aller Vielfalt gibt es aber doch auch etwas, was uns Reformierte verbindet, was unsere Identität auszeichnet. Davon soll heute abend die Rede sein. Wenn es etwas uns Verbindendes gibt, dann ist das der Bezug auf das Wort Gottes, wie es uns in der Bibel Alten und Neuen Testaments bezeugt wird. Die Bezeichnung reformiert ist eigentlich unvollständig. Genau genommen nennen sich die so bezeichneten Kirchen „nach Gottes Wort reformiert“. Sie nennen sich nicht nach einem Reformator wie es die lutherischen Kirchen tun. Sie bezeichnen sich auch nicht rein formal als orthodox – was mit „rechtgläubig“ zu übersetzen ist – oder als katholisch, was soviel wie allumfassend bedeutet. Reformierte Kirchen berufen sich schon in ihrem Namen auf das Wort Gottes als dem Grund, auf dem die Kirche steht und mit dem sie steht und fällt. Gottes Wort aber ist das Evangelium von Jesus Christus. Er wiederum ist Gottes Wort in Person, der nicht nur mit seinen Taten und seinem Leben, sondern mit seiner ganzen Person, seinem Weg ins Leiden, seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung Gottes Liebe und Vergebung unserer Schuld bezeugt hat. Mehr noch: Darin ereignet sich die freie Gnade Gottes, die aller Welt zu bezeugen und zu verkündigen der Kirche nach reformatorischem Verständnis aufgetragen ist.
Mit ihrer schlichten Gottesdienstform – es gibt keine gesungene Liturgie –, ihren in der Regel bilderlosen Kirchen, der Predigt, die ganz im Zentrum des Gottesdienstes steht, und den vertonten Nachdichtungen der Psalmen – man denke an den Genfer Psalter von 1542 und seine Nachwirkungen – ist die reformierte Kirche Kirche des Wortes. Das kann man zwar auch von den anderen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen sagen, aber von der reformierten Kirche gilt es doch in ganz besonderem Maße. Auch Taufe und Abendmahl werden ganz vom Wortgeschehen her gedeutet. Sie sind Siege, so sagt es Calvin, die den Zuspruch des Evangeliums, des Wortes von der freien Gnade Gottes, beglaubigen und bekräftigen.
Die Barmer Theologische Erklärung, die am 31. Mai 1934, also vor 90 Jahren, von der Synode der Bekennenden Kirche während des Kirchenkampfes in der NS-Zeit in Wuppertal-Barmen feierlich verabschiedet wurde, beginnt mit der These:
„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
Diese Sätze stammen aus der Feder des berühmten reformierten Theologen Karl Barth, der einige Jahre in Deutschland lehrte, dann aber von den Nazis vertrieben wurde und von 1935 bis zu seinem Tod 1968 an der Universität Basel als Theologieprofessor wirkte.
Wichtig ist auch die zweite These von Barmen. Sie lautet:
„Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“
Mit beiden Thesen ist ein besonderer Akzent des Reformiertentums markiert, nämlich die enge Verbindung zwischen Glauben und Handeln, zwischen dem Zuspruch der Gnade und dem Anspruch, den das Evangelium von der freien Gnade Gottes an uns stellt. In der Sprache der Tradition spricht man von Heiligung. Gemeint ist nicht, durch außerordentliche religiöse oder moralische Leistungen zu einem Heiligen zu werden. Gemeint ist vielmehr, dass es Gott und sein Geist sind, die uns heiligen sollen, so dass wir als Frucht des Glaubens ein Leben in der Nachfolge Christi führen, so unvollkommen auch immer das geschehen mag.
Der Auftrag der Kirche, so die VI. Barmer These,
„besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“.
In diesem Auftrag, so sagt die These auch, gründet die Freiheit der Kirche. Das zu betonen ist mir sehr wichtig, weil es doch das Vorurteil gibt, Reformierte, Calvinisten zumal, praktizierten eine besonders strenge Form des Christentums, die freudlos und unfrei mache. Wirkungsgeschichtlich sind solche Deformationen leider nicht in Abrede zu stellen. Schon optisch scheinen zwischen dem hageren Johannes Calvin, dem Reformator von Genf, und dem Wittenberger Reformator Martin Luther, dem man auf späteren Bilder ansieht, dass er gern sein Bier getrunken hat, Welten zu liegen. Reformiertentum wird gern mit Askese in Verbindung gebracht. Der Soziologe Max Weber hat den Geist Calvinismus oder des Puritanismus als Geist innerweltlicher Askese bezeichnet. Das Ideal des Mönchtums, das soll mit dem Ausdruck gesagt werden, soll im Alltag der Welt von allen Christenmenschen streng praktiziert werden. Historisch ist diese Beobachtung tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Um so wichtiger ist mir der Hinweis, dass der Reformierte Karl Barth, Hauptautor der Barmer Theologischen Erklärung, von der Freiheit spricht. Die Kirche ist nach reformatorischen und eben auch nach reformiertem Verständnis Kirche der Freiheit.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus im Galaterbrief, um sogleich hinzuzufügen: „So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1). Die in Christus geschenkte Freiheit ist allerdings keine bindungslose, keine Willkürfreiheit nach dem Motto: Ich kann tun und lassen, was ich will. Sondern sie ist Freiheit, die bindet, sie ist verbindende und verbindliche Freiheit. Sie ist das Gegenteil von starrer Gesetzlichkeit, aber sie achtet die guten Gebote Gottes als Anleitung zum Leben aus Glauben.
An dieser Stelle muss ich eine Bemerkung zum Begriff des Gesetzes in der reformatorischen Tradition einschieben. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts unterscheiden drei Weisen, in denen vom Gesetz die Rede ist, oder sagen wir genauer: drei Funktionen des Gesetzes, wobei das in Rede stehende Gesetz nicht die menschliche Rechtsordnung, sondern das Gesetz Gottes ist, an dem sich allerdings auch die menschliche Rechtsordnung ausrichten soll. Nach Martin Luther hat das Gesetz Gottes eine zweifache Funktion. Es soll in der unerlösten Welt das Schlimmste verhüten, also dafür sorgen, dass die Welt nicht im Chaos versinkt und das Böse derart überhandnimmt, das nur noch Mord und Totschlag herrscht. Luther bezeichnet die Funktion des Gesetzes auch aus politischen oder zivilen Gebrauch des Gesetzes (lateinisch: usus politicus legis seu civilis). Das Gesetz hat aber auch eine dezidiert religiöse oder theologische Funktion. Es hält uns den Spiegel vor, in dem wir uns ungeschminkt betrachten sollen, wenn wir uns fragen, ob wir in unserem Leben den Willen Gottes erfüllen und ob wir das überhaupt können. Konkret heißt das: Die Zehn Gebote und die Bergpredigt sollen als Beichtspiegel dienen, in dem wir unserer Sündhaftigkeit und Verlorenheit ansichtig werden. Ganz so werden die Zehn Gebote nach reformierter Tradition bei der Beichte im Gottesdienst gebraucht. Wer seine Sünde erkennt, kann sich eigentlich nur wie der Zöllner im Gleichnis Jesu vom Pharisäer und vom Zöllner an die Brust schlagen: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,14). Aber dabei soll es nicht bleiben. Schon im 130. Psalm spricht der Beter: „Wenn du Sünden anrechnest, HERR, Herr wer kann bestehen? Doch bei dir ist die Vergebung, damit man dich fürchte.“ So übersetzt die reformierte Züricher Bibel. Die Neue Genfer Übersetzung (2011) übersetzt: „damit die Menschen dir in Ehrfurcht begegnen“.
Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist das Folgende: Die Sündenerkenntnis soll eine heilsame sein. Sie dient nicht der Verdammnis, sondern der Freiheit und Erlösung, die wie aber nicht von uns aus erreichen können, sondern aus freien Stücken von Gott geschenkt bekommen. Wer meint, aus eigener Kraft die Gebote Gottes erfüllen zu können, um so seinem Urteilsspruch und Gericht zu entgehen, verstrickt sich nur immer tiefer in Schuld und Sünde. Gesetzlichkeit und Moralismus sind ein Weg, der nur immer tiefer ins Verderben führt. Es ist das Evangelium von der freien Gnade Gottes, das uns aus dieser unheilvollen Verstrickung befreit. Aus Glauben leben heißt nun aber nicht, Gottes Gebote künftig zu ignorieren, sondern vielmehr seine Gebote als hilfreiche Richtschnur zum Leben anzuerkennen. Nicht um sich damit nun doch noch Gottes Gnade durch eigene Leistung zu verdienen, sondern als Ausdruck der Dankbarkeit sollen wir versuchen, nach Gottes Gebot zu leben. Bezeichnenderweise ist die Auslegung der Zehn Gebote im Heidelberger Katechismus, einer der beiden verbindlichen Bekenntnisschriften unserer reformierten Kirche in Österreich mit dem Titel „Von der Dankbarkeit“ überschrieben (Frage 86–115).
2. Priestertum aller Getauften und presbyterial-synodale Kirchenverfassung
„Nach Gottes Wort reformiert“, das heißt nun aber, dass nicht nur unser persönliches Leben, sondern auch die Kirche in ihrer Ordnung und ihrer Ämterstruktur nach dem biblischen Zeugnis ausgerichtet sein soll. Darüber wäre nun im Einzelnen viel zu sagen. Ich muss mich auf wenige Hinweise beschränken. Für die reformierte Tradition ist kennzeichnend, dass die äußere Organisation der Kirche nicht ins menschliche Ermessen gestellt wird, sondern dem biblischen Zeugnis über die Gestalt der frühen Gemeinden und ihrer Ämter zu folgen hat. Nun wissen wir historisch, dass die Struktur der Ämter im ältesten Christentum keineswegs einheitlich war. Calvin aber vertrat die Auffassung, dass sich eine Grundstruktur erkennen lässt, die durch die Zeiten hindurch für die Kirche verbindlich sei. Während die lutherische Tradition vor allem nur ein kirchliches geistliches Amt kennt, nämlich das Predigtamt oder Pfarramt, unterscheidet die reformierte Tradition mehrere Ämter, die gemeinsam der Verkündigung des Evangeliums dienen. Unter Berufung auf Eph 4,11 hat Calvin seine sogenannte Lehre vom vierfachen Amt entwickelt. Danach stehen neben dem Amt der Wortvorkündigung das Amt des Lehrers, das Amt des Presbyters sowie das Amt des Diakonen. In der weiteren Entwicklung des reformierten Kirchentums sind Predigtamt und Amt des Lehrers miteinander verschmolzen, so dass die typisch reformierte Ämterstruktur heute in einem dreifachen Amt besteht: Predigtamt, Presbyteramt und Diakonenamt. Wir finden sie klassisch in der Emdener Kirchenordnung von 1571.
Das Diakonenamt hat bei uns lange Zeit ein etwas stiefmütterliches Dasein gefristet. Auf Initiative unserer Gemeinde Wien-Süd und ihres vormaligen Pfarrers Johannes Wittich ist es vor einigen Jahren wiederbelebt worden und in der Kirchenverfassung festgelegt, dass alle reformierten Gemeinden ein Diakonium haben sollen. Die Diakonie ist damit als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche in ihr fest verankert.
Verbunden mit der beschriebenen Ämterstruktur ist nun jene Organisationsform der Kirche, die man heute als presbyterial-synodale Grundordnung bezeichnet. In ihrer heutigen Form ist sie nicht 1:1 die Fortsetzung der Verhältnisse in Genf zur Zeit Calvins, aber sie ist doch als legitime Weiterentwicklung seiner Kirchenreform zu verstehen. Die Kirche wird nach diesem Modell nicht allein von ordinierten Geistlichen, sondern auch von Nichtordinierten geleitet. Auf Gemeindeebene sind das die Presbyter und Presbyterinnen. Auf einer übergemeindlichen Ebene bilden sich Synoden, die sich wiederum aus Ordinierten und Nichtordinierten zusammensetzen. Zur reformierten Identität gehört das sogenannte Gemeindeprinzip. Die Kirche baut sich demnach von unten nach oben auf. Sie besteht nach diesem Modell aber keineswegs aus lose miteinander verbundenen Gemeinden, wie das im sogenannten Kongregationalismus der Fall ist. Die einzelnen Gemeinden gehören konstitutiv zur Gesamtkirche, weshalb es auch eine gemeinsame Leitung der Gesamtkirche braucht. Aber die Leitung obliegt eben nicht nur Einzelpersonen, sondern Kollegialorganen, also den Presbyterien und Synoden. Wobei bei uns in Österreich noch die Spezialität hinzukommt, dass durch Urwahl, also durch Direktwahl nicht das Presbyterium, sondern die Gemeindevertretung gewählt wird, die wiederum aus ihren Reihen die Presbyterinnen und Presbyter wählt.
Auf diese Weise hat die Kirche, verstanden als das Volk Gottes – um mit einem vor allem in der katholischen Kirche gebräuchlichen Ausdruck zu sprechen – eine demokratische Verfassung, auch wenn sie streng genommen keine Demokratie im modernen Sinne des Wortes ist. Nehmen wir zum Vergleich die österreichische Verfassung. Sie beginnt mit den Worten: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ (Art. 1) Nun werden auch in der Kirche sämtliche Gesetze und Verordnung von der Synode beschlossen. Alle Leitungsämter werden durch Wahl besetzt. Aber ihrem Selbstverständnis nach ist die Kirche eben kein säkulares Staatsvolk, das vielleicht durch freien Zusammenschluss Gleichgesinnten entstanden ist, sondern sie existiert aufgrund von Gottes freier Gnadenwahl, wie sie in der Taufe zum Ausdruck kommt. Gott hat mit uns Menschen einen Bund geschlossen, nicht umgekehrt. Und Christus als das Haupt der Gemeinde und seiner Kirche ist dies nicht aufgrund menschlicher Entscheidungen, sondern weil Gott ihn dazu eingesetzt hat. Darum lautet auch die Gelöbnisformel für Gemeindevertreter: „Ich gelobe vor Gott, bei meinem Wirken als Gemeindevertreter, die innere und äußere Wohlfahrt dieser Gemeinde nach bestem Wissen und Gewissen zu wahren und darauf zu achten, dass die Kirche in allen Stücken wachse an dem, der das Haupt ist, Christus.“ Die Gelöbnisformel für Synodenmitglieder lautet entsprechend. Für die Kirche und ihre Glieder gilt, was schon vom Volk Israel gilt. Nicht Israel hat seinen Gott erwählt, sondern dieser hat sein Volk erwählt und aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Ganz so spricht auch Christus im Johannesevangelium: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe.“ (Joh 15,16).
Um noch bei Israel zu verweilen. Für das Reformiertentum ist die Wertschätzung des Alten Testaments, der Hebräischen Bibel, ein besonderes Kennzeichen. Der Tanach – Tora, Ketubim und Nebiim (also Gesetz, Schriften und Propheten) – ist Gottes gute Gabe für das Volk Israel, mit dem die Christen unauflöslich verbunden sind. Der Gott Jesu Christi ist kein anderer als der Gott Israels, und Jesus war nicht nur ein geborener, sondern auch ein gekreuzigter und von der Toten auferweckter Jude. Man muss auch von einer groben Fehlinterpretation sprechen, wenn man meint, das Alte Testament, wie wir die Hebräische Bibel als Teil unseres christlichen Doppelkanons nennen, sei nichts anderes als das tötende Gesetz, von dem Paulus spricht, währen allein im Neuen Testament das Evangelium zu finden sei. Nein, auch im Alten Testament stoßen wir auf das Evangelium von der freien Gnade Gottes, wie wir auch das Gesetz im Neuen Testament finden, zum Beispiel in den Mahnreden, die sich in den neutestamentlichen Briefen finden. Das Doppelgebot der Liebe, wonach wir Gott und den Nächsten lieben sollen wie uns selbst, ist alttestamentlich und keine Erfindung Jesu. Reformiert sein bedeutet daher auch, dem Geist des Antisemitismus in jeder noch so subtilen Form abzuschwören.
Im Zusammenhang mit der Hochschätzung des Alten Testaments noch eine Eigentümlichkeit der Reformierten hervorzuheben. In der Grundsatzerklärung der Evangelischen Kirchen H.B. in Österreich aus dem Jahr 1996 lesen wir: „Der ganzen Gemeinde ist das prophetische Amt aufgetragen. Sie ist verpflichtet, die aktuelle politische, soziale und kulturelle Situation zu analysieren und aus dieser Analyse ihr konkretes Sprechen und Handeln zu entwickeln. Sie ist bereit, die Zukunft mitzugestalten, und ist sich bewusst, damit Konflikte zu riskieren.“ (These 6) Diese Überzeugung ist auch im jüngsten Leitbild unserer reformierten Gemeinde Wien-Süd aufgegriffen worden. Dahinter steht die Lehre vom dreifachen Amt Christi, die auf Calvin zurückgeht. Christus ist demnach der endzeitliche Messias (königliches Amt), Verkünder des Wortes Gottes (prophetisches Amt) und der Hohepriester, der sich uns zur Erlösung selbst opfert und damit auch das Ende des Opfers heraufführt (Priesterliches Amt). Es war Karl Barth, der in eigentümlicher Weise das der gesamten Kirche übertragene Amt der Verkündigung als Teilhabe am prophetischem Amt Christi interpretiert hat. Hier ist der Anknüpfungspunkt für die Diskussion darüber, wie sich Kirche und Politik zu einander verhalten und worin der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche in Gesellschaft und Politik besteht. Darüber wird heute auch unter dem Schlagwort „Öffentliche Theologie“ diskutiert.
Die Erwählung und der Bund Gottes unterscheiden die Kirche von einer modernen Demokratie, aber zwischen diesem Bund und demokratischen Strukturen besteht eine erkennbare Affinität, die in der Geschichte der evangelischen Kirchen nicht immer so deutlich zum Vorschein gekommen ist. Heute haben auch lutherische Kirchen eine presbyterial-synodal Verfassung. Aber historisch betrachtet, ist diese in besonderer Weise ein reformiertes Erbe.
Die Gleichheit aller Glieder der Kirche gründet sowohl nach lutherischem als auch nach reformiertem Verständnis in der Taufe. Schon in seiner Schrift „Von der babylonischer Gefangenschaft der Kirche“ (1520) formuliert Luther den Grundsatz des Priestertums aller Getauften, der sich auf 1Petr 2,9 beruft. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 führt den Gedanken so aus (These IV):
„Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“
Der letzte Satz ist, wie man unschwer erkennt, gegen das sogenannte Führerprinzip im NS-Staat gemünzt. Die schon zitierte Grundsatzerklärung unserer Reformierten Kirche überträgt These IV der Barmer Erklärung folgendermaßen ins Heute: „Die gemeinsame Berufung aller Gemeindeglieder zum Dienst der Verkündigung des Evangeliums schließt nicht aus, dass es in der Kirche besondere Tätigkeiten und Aufgaben gibt („Ämter“). Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen jedoch keine Rangunterschiede oder Herrschaftsverhältnisse, sondern bestehen gemäß dem Willen Christi, um der Gemeinde die Ausübung des ihr als ganzer aufgetragenen Dienstes der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat zu ermöglichen. Deshalb stehen die verschiedenen Ämter nicht der Gemeinde gegenüber, sondern werden in ihrem Auftrag und unter ihrer Verantwortung wahrgenommen.“ (These 8). Und weiter:
„Keine Pfarrgemeinde darf über eine andere Vorrang und Herrschaft beanspruchen.“ (These 9)
Bleiben wir noch bei der gerade zitierten Grundsatzerklärung von 1996. Sie stellt heraus, dass die reformierte Kirche die Reformation nicht als eine abgeschlossene Epoche der Kirchengeschichte betrachtet, sondern sich zu beständiger Reformation aufgefordert weiß. Andernfalls besteht die Gefahr, im Traditionalismus zu erstarren und dem Evangelium auf diese Weise untreu zu werden. Das ecclesia reformata semper reformanda ist in der gern zitierten Fassung allerdings keine reformierte Formel aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, sondern auch sie geht vermutlich auf Karl Barth im 20. Jahrhundert zurück. Ein Zweifaches gilt es zu bedenken, wenn wir diese Formel aufgreifen. Auch die beständige Reformation ist wie diejenige des 16. Jahrhunderts am Wort Gottes auszurichten. Ein zweites: Der eigentliche Reformator seiner Kirche ist Christus selbst. Nicht wir reformieren die Kirche, sondern Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Segen kann auf unseren Reformbemühungen nur liegen, wenn wir uns dessen immer bewusst bleiben, und das heißt eben auch: auf Gottes Zeit warten, auf Gott hoffen und zu Gott hin im Gebet ausgerichtet sein.
3. Zur Geschichte der Reformierten in Österreich
Im Folgenden wollen wir noch ein wenige näher auf die Geschichte der Reformierten in Österreich eingehen. Die Evangelische Kirche in Österreich vereinigt zwei verschiedene Konfessionen, nämlich die Evangelisch-lutherische und die Evangelisch-Reformierte Kirche. Ihre offizielle Bezeichnung lautet Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (A.B.) bzw. Evangelische Kirche Helvetischen Bekenntnisses (H.B.). Diese Bezeichnungen sind eine österreichische Spezialität und in anderen Ländern unbekannt. Davon abgesehen geben sie auch den Bekenntnisstand beider Kirchen nicht ganz korrekt wieder. Denn die Präambel der Verfassung der Evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich von 1949 führt als Bekenntnisschriften der Evangelischen Kirche A.B. neben der namengebenden Confessio Augustana von 1530 auch die übrigen im Konkordienbuch von 1580 zusammengefassten lutherischen Bekenntnisschriften auf . In der Evangelischen Kirche H.B. aber gilt neben der Confessio Helvetica Posterior auch der Heidelberger Katechismus als Bekenntnisschrift . Dass man in Österreich nicht sonst die übliche Bezeichnung „evangelisch-lutherisch“ bzw. „evangelisch-reformiert“ verwendet, hat seinen Grund in der Geschichte Österreichs .
Den Reformatoren des 16. Jahrhunderts war es nicht um die Gründung einer neuen Kirche gegangen, sondern um die Erneuerung der bestehenden katholischen Kirche. So sprachen sie stets nur von der christlichen oder katholischen Kirche. Erst allmählich tauchte der Name „evangelisch“ auf, der auf das Evangelium, verstanden als die paulinische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben, als Richtschnur aller Lehre und allen Lebens der Kirche hinwies . Seit dem Reichstag von Speyer 1529, auf welchem die evangelischen Reichsstände gegen die von der katholischen Mehrheit gefassten Beschlüsse eine feierliche „Protestation“ eingelegt hatte, bürgerte sich – zunächst nur als Fremdbezeichnung – der Name „Protestanten“ ein, vor allem außerhalb Deutschlands. Bezeichnungen wie „Lutheraner“, „Zwinglianer“ oder „Calvinisten“ waren ebenfalls keine Selbstbezeichnung der Evangelischen, sondern Spott- und Schimpfnamen, mit welchem ihre Gegner die Reformationsbewegung als Sekte bloßstellen wollten. Die evangelischen Gemeinden und Reichsstände selbst nannten sich in Deutschland nach dem Augsburger Reichstag von 1530 „Verwandte der Augsburgischen Konfession“ oder „(nach Gottes Wort) Reformierte“. Bevor sich innerhalb des evangelischen Lagers der konfessionelle Gegensatz zwischen Lutheranern und Reformierten verfestigte, war „reformiert“ eine Bezeichnung für alle Evangelischen. Der Westfälische Friede von 1648, welcher den Dreißigjährigen Krieg beendete, brachte die rechtliche Anerkennung zunächst nur für die Lutheraner. Die volle Anerkennung der Reformierten wurde erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 erzielt.
Die Bezeichnung der Reformierten in Österreich als Evangelische Kirche H.B. geht auf das Toleranzpatent Joseph II. von 1781 zurück, welches die leidvolle Geschichte der Unterdrückung des evangelischen Christentums in der Habsburger Monarchie beendete und die Entwicklung zu ihrer rechtlichen Gleichstellung mit der römisch-katholischen Kirche einleitete . Das Toleranzpatent spricht von den „Augsburgischen und Helvetischen Religionsverwandten“ und nennt beide zusammen „die beiden protestantischen Religionen“. Es wurde festgelegt, die einzelne Kirche bzw. Gemeinde als „evangelisch“ unter Hinzufügung der Abkürzung „A.C.“ (heute A.B.) bzw. „H.C.“ (heute H.B.) zu kennzeichnen. Die Wiener Reformierten haben sich damals übrigens gegen die Einführung der Bezeichnung „evangelisch H.B.“ gewehrt, weil sie sich durch sie von den Reformierten im übrigen Europa abgekoppelt fühlten. Ihr Einspruch beim Kaiser hatte jedoch keinen Erfolg, so dass es bis heute bei den Bezeichnungen A.B. und H.B. geblieben ist. Aufgrund dieser geschichtlichen Umstände ist die Reformierte Kirche in Österreich heute die einzige reformierte Kirche, die nach dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis benannt wird.
Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Österreich zählt heute etwa 11.000 Mitglieder und gliedert sich in neun Kirchengemeinden, von denen fünf Gemeinden, nämlich die drei Gemeinden in Wien, sowie die Gemeinden in Oberwart und Linz, rein reformiert und die vier Gemeinden in Vorarlberg (Bregenz, Feldkirch, Dornbirn und Bludenz) gemischt-konfessionell (A.u.H.B.) sind. Gemeinsam mit der Evangelischen Kirche A.B. bildet die Evangelische Kirche H.B. die Evangelische Kirche A.u.H.B., die von der Generalsynode und dem Oberkirchenrat A.u.H.B. geleitet wird. Die Evangelische Kirche H.B. gehört der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen an (World Communion of Reformed Churches), der mehr als 52 Millionen Christinnen und Christen repräsentiert. Zwar bildet die reformierte Kirche in Österreich nur eine Diaspora innerhalb der evangelischen Diaspora, doch ist das Reformiertentum neben dem Luthertum weltweit die größte evangelische Konfessionsfamilie.
Die Geschichte der Reformierten Kirche in Österreich ist eng mit der wechselvollen Geschichte der Donaumonarchie verbunden . Am Beginn der Toleranzzeit gab es in dem damals weit größeren Territorium, zu dem das Burgenland noch nicht gehörte, 73.000 Evangelische. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs haben schätzungsweise 560.000 evangelische Christen in der österreichischen Reichshälfte der österreich-ungarischen Doppelmonarchie gelebt. Der Protestantismus Alt-Ungarns, namentlich der reformierte war immer um ein Vielfaches größer als der altösterreichische. Damals war die Reformierte Kirche Österreichs erheblich größer als heute. Unter reformierten Kirchenregiment standen die Superintendenzen Wien, Böhmen, Mähren und das Galizische Seniorat. Das Wiener Seniorat H.B. umspannte das gesamte Staatsgebiet der heutigen Republik Österreich (ohne das Burgenland) sowie den Nordosten Italiens und den Nordwesten des ehemaligen Jugoslawien. Mit dem Verlust großer Territorien am Ende des Ersten Weltkriegs schien die Fortexistenz einer eigenständigen Reformierten Kirche in der neu gebildeten Republik Österreich in Frage gestellt zu sein. Doch sicherte der Verbleib der Vorarlberger Gemeinden schließlich das Überleben der Evangelischen Kirche H.B.
Die Gemeinde Wien-Innere Stadt besteht wie die anderen beiden Wiener Gemeinde in ihrer heutigen Rechtsform seit 1924. Als ehedem einzige reformierte Gemeinde in Wien ist sie allerdings schon eine Gründung aus der Zeit Josephs II . Zuvor hatten sich die Anhänger des Reformiertentums in der holländischen Gesandtschaftskapelle versammeln können . Der reformierten Gemeinde in der Inneren Stadt gehörten Familien des Bürgertums und des Adels an. Teilweise handelte es sich um Nachkommen von Hugenotten. Erst im 20. Jahrhundert wurden die Gemeinden Wien-West und Wien-Süd gegründet . Unter den Gemeindegliedern bildeten die Arbeiter und Kleingewerbetreibenden, die zum großen Teil aus Böhmen und Mähren stammten, eine große Gruppe. Sie brachten die eigenständige Frömmigkeit ihrer Herkunftskirchen mit und gaben so den neu entstandenen Wiener Gemeinden ein besonderes Gepräge. Eine Gruppe von Evangelischen, die nach dem zweiten Weltkrieg aus der Batschka vertrieben wurden, ließ sich mit ihrem Pfarrer in Leonding, einem Vorort von Linz nieder. Aus diesen Anfängen entstand die heutige reformierte Gemeinde Linz. Von der Schweiz, Deutschland und Schottland wurde dagegen das evangelische Gemeindeleben in Vorarlberg beeinflusst, dass mit der industriellen Entwicklung dieser Region entstand. Wie jedoch bereits erwähnt wurde, handelt es sich bei den evangelischen Gemeinden in Vorarlberg um Gemeinde A.u.H.B., in deren gottesdienstlicher Liturgie, Lehre und Leben reformierte und lutherische Traditionen zusammenfließen und deren konfessionelle Unterschiede kaum je bedacht werden. In Vorarlberg ist man nicht reformiert oder lutherisch, sondern ganz einfach evangelisch.
Grundlage evangelischer Lehre sind allgemein gesprochen Schrift und Bekenntnis. Die Heilige Schrift gilt als oberste Norm und alleinige Quelle aller Verkündigung und kirchlichen Lehre (norma normans). Das evangelische Grundverständnis der Heiligen Schrift ist im 16. Jahrhundert in einer ganzen Reihe sogenannter Bekenntnisschriften dargelegt worden. Auch sie haben in der evangelischen Kirche normative Funktion, gelten aber als von der Heiligen Schrift abgeleitete und an dieser ständig neu zu überprüfende Norm (norma normata). Für die Reformierte Kirche in Österreich sind dies, wie schon eingangs erwähnt wurde, die Confessio Helvetica Posterior und der Heidelberger Katechismus. Als wichtiges Glaubens- und Lehrdokument der Gegenwart muss ferner die Leuenberger Konkordie von 1973 erwähnt werden, welche das Basisdokument der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) mit Sitz in Wien ist. Gemäß der Formel von der versöhnten Verschiedenheit erklärt sie, dasss die innerevangelischen Gegensätze der Reformationszeit, vor allem im Abendmahlsverständnis, heute nicht mehr bestehen oder aber ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben, so dass heute die Reformierten und Lutherischen Kirchen einander die volle Abendmahls- und Kirchengemeinschaft gewähren.
Die in Geltung stehenden Bekenntnisschriften zeigen, dass die Reformierte Kirche in Österreich neben der Theologie Calvins auch durch andere reformierte Traditionen geprägt ist. Das Zweite Helvetische Bekenntnis repräsentiert den zwinglianischen Traditionsstrang. Ulrich Zwingli, der Reformator von Zürich, steht am Anfang der nach ihm benannten Schule, Heinrich Bullinger (1504–1575), der Verfasser der Confessio Helvetica Posterior an ihrem Ende. Trotz zum Teil erheblicher Unterschiede zwischen der Theologie Zwinglis und derjenigen Calvins lassen sich jedoch zwischen calvinistischer und zwinglianischer Lehre grundlegende Übereinstimmungen feststellen . Sie betreffen die Auffassung vom christlichen Staat, die Forderung nach Heiligung des öffentlichen Lebens und das Recht der Prediger zur öffentlichen Kritik der Obrigkeit. Zur allgemeinen reformierten Lehrtradition, welche Calvinismus und Zwinglianismus über alle Differenzen hinweg verbindet, dafür aber teilweise im Gegensatz zur lutherischen Lehrweise steht, gehören vor allem die Betonung der Einheit Gottes, der Heilscharakter des Gesetzes, die Buße aus dem Evangelium, die Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung, die Vorstellung vom Wachstum des Glaubens, das aus dem Bilderverbot des Dekalogs abgeleitete Verbot von Bildern in den Kirchen, das bereits angesprochene Gemeindeprinzip, sowie die Formulierung eines christlich begründeten Widerstandsrechtes.
Auch der Heidelberger Katechismus, dessen ältestes Druckexemplar in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt , repräsentiert nicht einen rein calvinistischen Lehrtypus, sondern das sogenannte deutsche Reformiertentum, welches vor allem durch den Übertritt von Anhängern Philipp Melanchthons zum Calvinismus entstand und melanchthonisches Luthertum mit calvinistischer und zwinglianischer Theologie verbindet. Der Heidelberger Katechismus ist die Gemeinschaftsarbeit mehrerer Theologen und eine Komposition aus verschiedenen reformatorischen Lehrweisen. Melanchthonisch ist im Heidelberger Katechismus der Ordo salutis von Gesetz, Evangelium und neuem Gehorsam, der inhaltlich allerdings calvinisch interpretiert wird. In der Entfaltung der Trinitätslehre folgt der Katechismus Martin Luther. Der Glaubensbegriff ist melanchthonisch, streng zwinglianisch dagegen die in Frage 86 vertretene Lehre vom Syllogismus practicus. Der Sakramentsbegriff des Heidelberger Katechismus betont sowohl zwinglianisch, dass die Sakramente den Glauben der an ihnen teilnehmenden Christen bestätigt, als auch calvinisch, dass die Christen durch die Sakramente in ihrem Glauben gestärkt werden sollen. Näherhin ist die Tauflehre des Katechismus calvinisch, seine Abendmahlslehre dagegen eher zwinglianisch. Zusammenfassend lässt sich mit Wilhelm Neuser feststellen, dass den Heidelberger Katechismus die Verbindung melanchthonischer Formeln mit calvinischer Lehrweise kennzeichnet . Vermittelt durch die theologische Entwicklung mancher Teile des Luthertums von Philippismus zum Calvinismus ist der Einfluss Calvins auf die Theologie des Heidelberger Katechismus weitaus größer als derjenige Bullingers und des Zwinglianismus.
4. Das Erbe Calvins
Wie Reformiertentum und reformierte Theologie äußerst vielschichtig sind, so gilt dies, wie wir gesehen haben, auch für die Reformierte Kirche in Österreich. Das Erbe Calvins ist in ihr präsent und ein wichtiges Element ihrer reformierten Identität. Um dieses angemessen würdigen zu können, ist aber nicht nur nach dem Anteil calvinischer Theologie an den in Geltung stehenden Bekenntnisschriften, sondern auch nach der Calvin-Rezeption im Verlauf der Geschichte der Reformierten Kirche in Österreich zu fragen. Dazu sollen im Folgenden einige Hinweise gegeben werden.
Die Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts breitete sich auch in den österreichischen Erblanden aus. Bis zum Beginn der Gegenreformation schlossen sich wohl fast 80 % der Bevölkerung der neuen Bewegung an . Neben der Lehre Luthers und Spuren Zwinglis, der übrigens von 1498 bis 1502 in Wien studiert hat , und Calvins gab es auch ein bedeutsames Täufertum . Es ist allerdings schwer, die einzelnen Faktoren der Reformation in Österreich historisch säuberlich zu trennen. Für die Reformationsgeschichte Österreichs ist ein Ineinander reformkatholischer, lutherischer, kryptocalvinistischer und reformierter Traditionen charakteristisch.
Der Einfluss der reformierten Variante auf die österreichische Reformationsgeschichte ist bisher erst in Ansätzen untersucht. Die wichtigsten Arbeiten namentlich zur Calvin-Rezeption im Gebiet des heutigen Österreich stammen von Peter F. Barton . Soweit bislang erkennbar, erfolgte die Rezeption der Theologie Calvins in der Regel aus einem Motivbündel von Nicht-Luthertum oder auch Antiluthertum, Humanismus, Reformiertentum in der Bandbreite aller denkbaren Spielarten, Philippismus (Theologie Melancthons) und oft auch sogar Katholizismus.
Aus verschiedenen Gründen ist es schwierig, ein zusammenhängendes Bild der österreichischen Calvin-Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert zu zeichnen, unter anderem deshalb, weil es unter den Anhängern Philipp Melanchthons, den sogenannten Philippisten, teilweise fließende Übergänge zum Calvinismus gab. Wer unter den Philippisten bereits vor einem förmlichen Übertritt zum Reformiertentum ein sogenannter Kryptocalvinist war, ist im einzelnen schwer auszumachen. Dort, wo man im Gebiet des heutigen Österreich die Nähe einzelner Theologen oder Adliger zum Reformiertentum nachweisen kann, lässt sich nicht mehr feststellen, ob und in welchem Ausmaß einzelne Gemeinden oder die auf den Gütern reformierter Adliger lebenden Bauern tatsächlich eine reformierte Mentalität, Frömmigkeit und Theologie übernahmen oder aus den Predigten reformierter Pfarrer nur das gemeinreformatorische Gedankengut heraushörten. Anders als in den deutschen Gebieten oder in der Schweiz, wo konfessionelle Gegensätze seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts an Schärfe gewannen, betonten die in Bedrängnis geratenen Anhänger der Reformation in den habsburgischen Gebieten länger und intensiver das den Evangelischen Gemeinsame statt des Trennenden. Im übrigen ist mit P.F. Barton festzustellen:
„Der Ausformung reformierter Theologie- und Glaubensstrukturen war in der Regel […] eine zu kurze Zeit des Reifens – meist nur weniger Jahre, maximal einer knappen Generation vergönnt. Das war entschieden zu wenig, um eine entsprechende Breiten- und Tiefenwirkung möglich zu machen, wie wir wohl zu Recht vermuten können“ .
Aufgrund der Maßnahmen der Gegenreformation ist die Quellenlage äußerst bruchstückhaft. „Ketzerische“ Schriften wurden in den habsburgischen Ländern oft systematisch vernichtet, so dass sich meist nicht mehr ausmachen lässt, ob und welche reformierten Bücher in evangelischen Gebieten gelesen wurden. Immerhin zeigen die erhaltenen Buchbestände von Adligen, Humanisten und Geistlichen, die nicht generell vernichtet, sondern partiell den Bibliotheken der Klöster, Stifte und Regierungsstellen einverleibt wurden, dass der Einfluss des späten Reformiertentums im 16. Jahrhundert nicht gering gewesen sein kann. Die ehemalige Hofbibliothek in Wien, die heutige Österreichische Nationalbibliothek, enthält unter anderem 106 Calvin-Teilbände, 70 Teilbände der Werke seines Nachfolgers Theodor Beza, sowie 77 Teilbände der Werke Heinrich Bullingers.
Ausweislich der erhaltenen Quellen wurde der Calvinismus in Österreich eher nur selektiv, aber durchaus nachhaltig, rezipiert oder stellte ein wichtiges Übergangsstadium dar. Zwischen 1540 und 1570 gab es erstaunlich viele persönliche und briefliche Kontakte von lutherischen Humanisten, Theologen und Politikern mit Calvin selbst und mit Calvinisten. Erst im letzten Drittel des Reformationsjahrhunderts, als sich die innerevangelischen Fronten verhärteten, gingen diese Kontakte stark zurück.
Der bedeutendste österreichische Calvinist war an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert Georg Erasmus von Tschernembl, Herr auf Schwertberg im Machland in „Niederösterreich ob der Enns“, sowie Erbschenk in Krain und der Windischen Mark. Mit 15 Jahren war er von seinem Vater zum Studium an die lutherische Universität Altdorf geschickt worden, an der einige kryptocalvinistische Professoren lehrten. 1586 reiste er nach Genf, das er als überzeugter Calvinist verließ. Sein Schwager, der prominente lutherische Adlige Reichart Strein, machte ihn in Genf auf seinen Lehrer François Hotman aufmerksam, welcher einer der großen Theoretiker der Monarchomachen, also einer der Begründer des reformierten Widerstandsrechtes war. Tschernembl sollte entsprechend ein Vorkämpfer gegen Fürstentyrannei in Österreich werden. In seinen „Consultationes“ von 1618 werden nicht nur gut calvinisch das Recht auf Widerstand und Bekämpfung der Tyrannei, sondern auch antiabsolutistische Verfassungsgrundsätze entwickelt. Doch seine evangelische Aufstandsbewegung am Beginn des Dreißigjährigen Krieges scheiterte bereits 1620. Tschernembl flüchtete nach Genf, wo er 1626 starb. Seine Familie wie die mit ihr verwandten Starhembergs konvertierten rasch zum Katholizismus. So erlosch der Calvinismus für Jahrhunderte im Lande ob der Enns. Ein Sonderfall der protestantischen Kirchengeschichte Österreichs war Wien. „Unter einer dünnen Firnis katholischer Präsenz war Wien eine lutherische Stadt. In Hofkreisen aber war auch das Reformiertentum präsent“ . Unter Maximilian II. war die Stadt Zentrum einer unionistisch eingestellten Gruppe von Humanisten, die wie der Kaiser selbst als reformkatholisch, philippistisch oder auch als eine dritte Kraft eingestuft wurde. Unter den aus dem Philippismus hervorgegangenen Calvinisten der damaligen Zeit sind vor allem der Leibarzt der Kaiser Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. Dr. Johann Krafft aus Breslau, den Maximilian 1568 als Crato von Crafftheim in den erblichen Adelsstand erhoben hatte, sowie Carolus Clusius (Charles de l’ Escluse) aus Arras zu erwähnen. Die weitere Entwicklung bis zur Gründung der Reformierten Gemeinde Wien nach Erlass des Toleranzpatents wurde duch die holländische Gesandtschaftskapelle gefördert, in welcher neben den Angehörigen der Gesandtschaft auch evangelische Bürger der Stadt freien Zutritt erhielten. So wurde das Reformiertentum in Wien durch den niederländischen Calvinismus beeinflusst.
Anders verlief dagegen die Entwicklung im Burgenland, das seinerzeit nicht zu den österreichischen Erblanden gehörte. Während das nördliche Burgenland sich relativ rasch dem Luthertum öffnete und, soweit es nicht im 17. und 18. Jahrhundert rekatholisiert wurde, lutherisch blieb, ging die Reformation im südlichen Burgenland von der Burg Güssing aus, die seit 1524 im Besitz der Batthyániys war . Spätestens seit 1576 schlug Balthasar Batthyány einen offenen protestantischen Kurs ein und bestellte noch im gleichen Jahr Stephan Beythe als Prediger nach Güssing. Beythe und Batthyány entwickelten sich immer stärker zum Calvinismus hin, bis es 1591 auf der Synode zu Csepreg zum offenen Bruch zwischen Reformierten und Lutheranern kam. Beythes 1597 verfasstes lateinisches „Güssinger Glaubensbekenntnis“ ist eindeutig calvinistisch. Obwohl die auf Batthyánys Gebiet neuentstehende reformierte Kirche nur kurze Zeit ungefährdet blieb, konnte es doch zu dauerhaften Gemeindebildungen kommen.
Zwar wurde schon bald in der Umgebung Güssings die Rekatholisierung besonders konsequent und systematisch durchgeführt, doch konnte die Gemeinde Oberwart, von der schon die Rede war, ihren reformierten Glauben bewahren. Neben der Reformierten Gemeinde Wien, die sich nach dem Zusammenbruch des Wiener Protestantismus 1627 im Schutze der holländischen Gesandtschaftskapelle neu formierte, war es also die Gemeinde Oberwart, welche die reformierte Tradition im Zeitalter der Gegenreformation fortführte und das Erbe des Calvinismus in Österreich bewahrte.
Schließen möchte ich meinen Vortrag mit einigen Bemerkungen zur Bedeutung des Genfer Reformators Calvin für uns heute. Calvin hat Einsichten formuliert, die gültig und für Theologie und Kirche wegweisend bleiben. Zunächst sei daran erinnert, dass sich Calvin zeit seines Lebens als Schüler Luthers verstanden hat. Er blieb, auch als seine Lehrweise zunehmend eigenständiger wurde, davon überzeugt, dass er die Lehrgrundlage mit Luther gemeinsam habe, und zwar nicht nur im Verständnis der Rechtfertigungslehre, sondern auch in der Lehre von der Erwählung (Prädestination) und vom Abendmahl. Umgekehrt hat auch Luther von Calvin stets mit Hochachtung gesprochen . Für reformierte Theologie, die sich dem Erbe Calvins verpflichtet weiß, bleibt der Rückbezug auf Luther unaufgebbar. Luthers Neuentdeckung des Evangeliums, seine Formulierung der Rechtfertigungslehre, mit der die Kirche steht und fällt, finden in der Theologie Calvins ihren Widerhall.
Stärker als Luther hat Calvin jedoch auf die äußere Reform kirchlicher Strukturen gedrängt, und zwar aus dezidiert theologischen Gründen. Von Calvin bleibt zu lernen, dass die äußere Gestalt und Organisation der Kirche nicht etwa nur eine Frage der jeweiligen Zweckmäßigkeit und der Zeitumstände ist, sondern dass die Gestalt der Kirche mit dem Grund ihres Glaubens und Daseins übereinstimmen muss. Ähnlich hat auch Zwingli gedacht, doch verglichen mit Calvin blieb Zwinglis Wirkungsgeschichte eine Episode. Erst mit Calvin entstand eine dauerhafte reformierte Gestalt der Kirche, deren presbyterial-synodale Ordnung später auch auf den lutherischen Kirchentypus einwirken sollte. Wenngleich im Genf Calvins Kirche und Staat eine Einheit bildeten, lagen doch in der Theologie Calvins entscheidende Impulse für die Auffassung von einer freien Kirche im freien Staat. Sie wurden vor allem durch reformierte Flüchtlings- und Diasporagemeinden wirksam, welche ihren Glauben und ihr Kirchesein unter Verfolgungen bewähren und bewahren mussten. Das gilt nicht zuletzt für die Reformierte Kirche in Österreich. Der calvinische Kirchentypus vermochte der Gegenreformation zu widerstehen und wurde wegweisend für die Trennung und Zuordnung von Kirche und Staat in der modernen Demokratie.
Die Theologie Calvins hat ein bestimmtes evangelisches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein befördert, welches die alltägliche Lebensführung wie auch die Gestaltung des Gemeinwesens in Politik und Ökonomie als Gottesdienst im Alltag der Welt begreift. Luthers Auffassung vom Beruf, welcher die Trennung von Heiligem und Profanen im Ansatz überwand und die monastische Lebensführung in modifizierter Form zur Aufgabe aller Christen im Alltagsleben erklärte, fand in der Theologie Calvins und im Calvinismus eine besondere Ausprägung. Auch wenn man nicht, wie Max Weber es in seiner berühmten Studie über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus versucht hat, das Entstehen des modernen Kapitalismus vornehmlich aus dem reformierten Berufsethos und seinem Grundgedanken der innerweltlichen Askese erklären kann , bleibt doch unbestritten, dass das Entstehen der modernen Welt, namentlich in Westeuropa und in Nordamerika, dem Erbe Calvins wichtige Impulse zu verdanken hat.
Bleibende Bedeutung hat Calvin schließlich auch als Ökumeniker . Entgegen einer gewissen Tendenz des Protestantismus zur Partikularisierung der Kirche in eine Vielzahl lokaler und regionaler Kirchentümer hat Calvin stets die ökumenische Weite der einen Kirche Christi im Blick gehabt. So pflegte er nicht nur eine ausgedehnte internationale Korrespondenz und hielt von Genf auf den Kontakt zu Flüchtlingsgemeinden und reformierten Kirchen in ganz Europa. Er mühte sich nicht nur um die Beilegung innerevangelischer Streitigkeiten, namentlich in der Abendmahlsfrage, sondern auch um eine Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche. Im Grunde muss seine „Theologie der Diagonale“ (Josef Bohatec) als ökumenische Theologie verstanden werden, die sich in den Dienst nicht nur der Erneuerung, sondern auch der Einheit der Kirche gestellt sieht. Calvin ist nicht nur einer der geistigen Väter der innerprotestantischen Ökumene, sondern der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts.
Auch die katholische Calvin-Forschung würdigt heute die ökumenische Bedeutung Calvins . Namentlich Alexande Ganozcy nimmt Calvin in seinem Selbstverständnis, recht verstanden ein katholischer, d.h. ökumenischer Theologe zu sein, ernst und hat in einem bemerkenswerten Vergleich zwischen der Ekklesiologie Calvins und derjenigen des Zweiten Vatikanischen Konzils interessante Parallelen aufgezeigt, die es im ökumenischen Gespräch zwischen reformierter und römisch-katholischer Kirche fruchtbar zu machen gilt. Die tiefgreifenden Differenzen in der Beurteilung des römischen Papstamtes sollen keineswegs unterschlagen werden. Über ihnen darf aber nicht übersehen werden, „wie nahe manche Dokumente des II. Vaticanums bestimmten Themen und Aspekten der Theologie Calvins von der Kirche stehen“ . Calvins Ekklesiologie hat jedenfalls konsequent die Konzentration auf das christozentrisch bestimmte Wesen der Kirche mit ökumenischer Weite verbunden. Für die Reformierte Kirche, nicht zuletzt für die Evangelische Kirche Helvetischen Bekenntnisses in Österreich, ist daher das Erbe Calvins ökumenischer Auftrag.
Autor:
O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner
Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft
Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien
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