Soziales Fieberthermometer

Armutsgefährdete Kinder leiden besonders unter der Coronakrise. © Jordan Whitt auf Unsplash

Corona und Armut in Österreich

„Da war ein Fenster offen und eine Geigerin spielt, irrsinnig schön, also Mozart und Bach. Dann waren immer mehr Leute, sie wollte schon aufhören. Eine Freundin von mir hat gesagt, bitte nicht aufhören, bitte noch eins spielen. Zu Hause ist alles still und zu Hause wartet niemand auf mich und zu Hause bin ich allein. Und sie hat dann noch gespielt, also mir sind total die Tränen gekommen.“ Das erzählt eine Frau aus Graz. Sie spricht über die Corona Zeit. Sie lebt unter der Armutsgrenze. Eine Studie hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, prekäre Künstler, Leute mit Mindestsicherung und Notstandshilfe, Alleinerziehende, Reisebegleiter und eine Marktfahrerin sprachen über ihr Leben in der Corona Krise.

Suche nach Sündenböcken

Was ausschließlich Armutsbetroffene aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch bei Versandhandel und Gastronomie. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Von Armut Betroffene sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative, gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen. Auch beginnende Beschämungs- & Spaltungstendenzen in der Gesellschaft – sprich: die Suche nach Sündenböcken – spüren sie schon früher. Noch in jeder Pandemie der Menschheitsgeschichte hat die Frage nach den „Schuldigen“ eine wesentliche Rolle für ihre Verarbeitung gespielt, haben die sozial Randständigen und Minderheiten das größte Risiko getragen, als „Sündenböcke“ ausgewählt zu werden.

Armut nicht „covidisieren“

Viele Armutsbetroffene gehen einer geringfügigen Beschäftigung nach und bessern dadurch Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder (Mindest-) Pension auf. Die Geringfügigkeitsgrenze liegt bei 460,66 Euro – das ist viel Geld. Sie verloren ihre geringfügige Beschäftigung nach dem Lockdown und damit einen beträchtlichen Teil eines Einkommens, das so knapp ist, dass jeder Euro zählt. „Ich habe die ganzen Jahre über immer wieder mit kleinen Nebentätigkeiten ein bissl was dazu verdienen können, und dann bin ich wirklich zurückgeworfen worden auf diese 600 Euro. Was nämlich jetzt bei mir auch passiert ist: dass ich jetzt mehr Schulden angehäuft habe. Das sind keine großen Schulden, das ist dort einmal einen 50iger ausgeborgt, dort einmal einen 20er. Nur irgendwann muss ich die zurückzahlen.“

Die alte Normalität wird in der neuen umso mehr sichtbar. Wer vor dem März 2020 prekär oder gar irregulär gearbeitet hatte, konnte in den Wochen danach seinen bzw. ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft kaum noch bestreiten. Betrachtet man also Gruppen, die schon im Frühjahr 2020 nicht mehr wussten, wie sie ihr Leben bestreiten sollen, stößt man auf prekäre Verhältnisse aus den Zeiten der Normalität von vorher. Deswegen dürfen wir soziale Verwerfungen und Armut auch nicht „covidisieren“. Heißt: Was gegen Armut vor Corona geholfen hat, hilft auch jetzt gegen Armut. Eine gute Mindestsicherung ist besser als eine schlechte Sozialhilfe, verfügbare Therapien, leistbares Wohnen oder gute Schulen für alle, helfen jetzt wie davor. Was gegen die Schere zwischen Arm und Reich vor Corona erfolgreich war, ist es auch jetzt. Die soziale Ungleichheit wird in und nach Wirtschaftskrisen in der Regel größer, hat der renommierte britische Sozialwissenschaftler Tony Atkinson anhand von vierzig Wirtschaftskrisen beobachtet. Wie die Kosten der Krise verteilt werden, entscheidet über mehr oder weniger Armut in den nächsten Jahren.

MARTIN SCHENK
Sozialexperte der Diakonie Österreich
www.diakonie.at