Reformierte Pfarrerinnen im Libanon und in Syrien: Wegbereiterinnen jenseits der Stereotype

Jugend © Reformierte Kirche von Al-Hasaka (Syrien) (Sabbagh 2)


Westliche Vorstellungen portraitieren die Levante häufig als stark patriarchalisch geprägt. Doch die Erfahrungen der Pfarrerinnen Roula Suleiman aus Tripoli (Libanon) und Mathilde Sabbagh aus Al-Hasaka (Syrien) zeichnen ein differenzierteres Bild. Indem sie als ordinierte Frauen in der reformierten „Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und Libanon“ an das traditionelle Frauenbild anknüpfen, ohne es zu übernehmen, begegnen sie den seelsorgerlichen Bedürfnissen ihrer Gemeinden und finden dabei bemerkenswerten Rückhalt in Kirche und Gesellschaft.

Beide übernahmen ihre Ämter in Krisensituationen, nachdem ihre Gemeinden von den jeweiligen Pfarrern verlassen wurden und dringend Leitung benötigten. Die Selbstverständlichkeit ihrer Akzeptanz widerspricht gängigen Klischees: Ihre Lebensgeschichten zeugen von tiefer Berufung, außergewöhnlicher Beharrlichkeit und einer praxisorientierten Theologie.

Die Pionierinnen und ihre Wege

Roula Suleiman gilt als die erste Pfarrerin im gesamten Nahen Osten. Aufgewachsen im stark sunnitisch geprägten Tripoli, verspürte sie bereits mit 14 Jahren den Ruf in den kirchlichen Dienst und bewarb sich mit 17 um die Zulassung zur Pfarramtsausbildung, der die Synode jedoch zunächst nicht zustimmte – allerdings ausdrücklich nicht aus theologischen Gründen. Ihr Vater ermöglichte ihr dennoch das Theologiestudium an der evangelischen Hochschule „Near East School of Theology“ (NEST) in Beirut. Nach ihrem Abschluss 1997 arbeitete sie zunächst als Gemeindepädagogin, bevor sie 2001 in ihre Heimatgemeinde nach Tripoli zurückkehrte.

Wende 2006

Ein entscheidender Wendepunkt ereignete sich im Jahr 2006 während des israelischen Angriffs auf den Libanon, als der örtliche Pfarrer in die Vereinigten Staaten auswanderte. Suleiman sprang ein und übernahm die pastoralen Aufgaben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ordiniert war. Ihr unermüdliches Engagement veranlasste die Gemeinde 2008, die Synode offiziell zu bitten, sie als Pfarrvikarin einzusetzen. In dieser Funktion diente Suleiman acht Jahre lang, bis sie 2017 schließlich auf ausdrückliches Drängen ihrer Gemeinde von der Synode ordiniert wurde.

Reformierte Pfarrerin Sabbagh
Mathilde Sabbagh begann ihren Dienst 2016 in der syrischen Kleinstadt El-Hasakeh und wurde dort 2022 ordiniert. Anfänglich war ihr Vater gegen ihre theologische Ausbildung, willigte aber letztlich kurz vor seinem Tod ein. Wie Suleiman studierte auch Sabbagh Theologie in Beirut. Auch in ihrem Fall verließ der damalige Pfarrer die Gemeinde und floh nach Schweden. So wurde Sabbagh zur Nachfolgerin ernannt. Als verheiratete Frau und Mutter von fünfjährigen Zwillingen verkörpert sie eine neue Generation von Pfarrer:innen in einer Region, die durch Konflikte geprägt ist.

Theologische Ausrichtung: Jenseits von Geschlechterkämpfen

Geschlechterpolitik oder Geschlechterkampf waren nie das primäre Anliegen beider Pfarrerinnen, sondern beide Theologinnen definieren ihre Rolle in erster Linie über die pastoralen Dimensionen ihres Dienstes. Zugleich sind sich beide Pfarrerinnen der indirekten Wirkung ihrer Vorbildrolle bewusst. Besonders für junge Mädchen verkörpern sie ein kraftvolles Empowerment.

Suleiman verfolgt einen pragmatischen, seelsorgerlich ausgerichteten Ansatz, der sich in den komplexen gesellschaftlichen und religiösen Gefügen des Libanon als besonders wirkungsvoll erwiesen hat. Zugleich war sie sich der Verantwortung bewusst, dass ihre Rolle als erste Pfarrerin im Nahen Osten zum Maßstab für alle nachfolgenden Kolleginnen werden könnte.

Sabbagh vertritt mit Stolz eine traditionelle reformierte Theologie und legt deutliche Schwerpunkte auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Anliegen. Angesichts des jahrelangen Bürgerkriegs und der Abwanderung der christlichen Minderheit steht für sie die Zukunft des Christentums in der Region ungleich höher als Gender-Fragen.

Männliche Unterstützung statt patriarchalischer Ablehnung

Beide Pfarrerinnen können sowohl auf die Unterstützung männlicher Gemeindemitglieder und Kollegen als auch auf Rückhalt in der umliegenden Gesellschaft zählen. In levantinischen Familien genießt die traditionelle Rolle der Mutter oder der ältesten Schwester – als empathische Ratgeberin und resiliente Managerin für das Wohl der Familie – hohes Ansehen. Zudem ist es nicht ungewöhnlich, dass junge Frauen vor der Heirat von ihren Familien zum Universitätsstudium ermutigt werden. Diese Faktoren fließen in ihren Dienst ein: Beide Frauen profitieren von kulturellen Gegebenheiten, die ihre Rolle als Seelsorgerinnen in Kirche und Gesellschaft begünstigen.

Diese breite Akzeptanz zeigte sich eindrucksvoll bei Suleimans Ordination: 2016 stimmten 22 von 23 (männlichen) Mitgliedern der Synode für ihre Ordination und in der libanesischen Öffentlichkeit wurde dieses Ereignis als Errungenschaft gefeiert. Sabbagh beobachtet sogar, dass ihre Akzeptanz unter Männern teilweise größer ist als unter Frauen. Ihr Wirken durchbricht kulturelle Tabus: Bei traditionellen Zeremonien wie Beerdigungen übernimmt Sabbagh eine leitende Rolle, die ihr als Frau normalerweise nicht zustünde. Diese Grenzüberschreitungen versteht sie nicht als feministischen Erfolg, sondern als natürliche Folge ihres seelsorgerlichen Amtes. Beide Pfarrerinnen betonen in ihren Gemeinden bewusst ihre weibliche Präsenz, die spürbar positive Veränderungen bewirkt: Die Atmosphäre ist offener, die Kirche einladender, und die Gemeinde wächst zu einer familiären Gemeinschaft zusammen.

Neugestaltung kirchlichen Lebens und politisch-soziales Engagement

Die Rolle der Pfarrerin reicht weit über die reine Seelsorge hinaus. Trotz des komplexen Geflechts aus Politik und Religion im Libanon setzt Suleiman weniger auf politische Einflussnahme als auf zwischenmenschliche Partnerschaften. So kann sie auf die Unterstützung des tief religiös-muslimischen, zugleich aber moderaten Umfelds zählen, mit dem sie regelmäßig gemeinsame Aktivitäten organisiert. Selbst als die Kirche zum Ziel einer Störaktion wurde, stellten sich die Stadtverwaltung – und insbesondere die muslimische Nachbarschaft – ausdrücklich hinter die Gemeinde. Auch die Zusammenarbeit mit den maronitischen und orthodoxen Kirchen beschreibt Suleiman als äußerst positiv.

Unter Sabbaghs Leitung wurde ihre Gemeinde zu einem lebendigen ökumenischen Zentrum, das heute Hunderte von Kindern, Jugendlichen und Frauen betreut. Die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche gestaltet sich sehr positiv, herausfordernd hingegen bleibt das Verhältnis zur syrisch-orthodoxen Kirche, die ihr noch mit Argwohn begegnet. Die Spannungen sind auch historisch bedingt: Die Kirchen im Nordosten Syriens gehören zu den „Generationen nach dem Massaker“ – gemeint sind die traumatischen Erfahrungen des Völkermords an Armeniern und syrischen Christen im Osmanischen Reich (1915–1916). Mit ihrer pastoralen Arbeit möchte Sabbagh auch zur Heilung dieser historischen Wunden beitragen. Politisch bezieht Sabbagh keine direkte Position, sieht es jedoch als ihre Verantwortung als Protestantin, sich gegen Korruption und Ungerechtigkeit einzusetzen und die jüngere Generation zu ermutigen, kritisch zu hinterfragen.

Ein neues Kapitel für die Kirche im Nahen Osten

Die Geschichten von Roula Suleiman und Mathilde Sabbagh eröffnen ein neues Kapitel in der Geschichte der evangelischen Kirchen im Nahen Osten. In einer Region, die zugleich um das Fortbestehen des Christentums und um Gleichberechtigung ringt, sind sie ein Zeichen der Hoffnung. Suleimans Zuversicht, dass sich alles im Einklang mit Gottes Willen fügen wird, spiegelt den Geist wider, der beide Frauen in ihrer Berufung prägt. Ihr Wandel folgt weniger westlichen Geschlechterdebatten als einem tiefen Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Gemeinden. In ihrer theologischen Praxis stellen sie nicht ihr Frausein in den Vordergrund – das allenfalls indirekt durch traditionelle Rollen wie Mutter oder älteste Schwester sichtbar wird –, sondern die pastorale Sorge um die ihnen anvertrauten Menschen. Eine Haltung, die in diesem kulturellen Kontext offenbar weit mehr Türen öffnet als ein explizit feministischer Ansatz.

Angelo Comino