„Reformatorin unserer Zeit“

Dorothee Sölle (1929–2003) gehört wohl zu den Personen, die man nicht vergisst, wenn man ihnen einmal persönlich begegnet ist oder sie zumindest einmal im Rahmen einer Veranstaltung erlebt hat.

So sehe ich Dorothee Sölle auch noch vor mir, wie ich sie 1974 auf der Kanzel der Reformierten Stadtkirche in Wien als Gastpredigerin erstmals hörte.

Ja zum Leben in Gerechtigkeit und Frieden

Mit ihrer Predigt vermittelte sie die Kernaussagen, die sie ihr ganzes Leben hindurch begleiteten: Das unweigerliche Ja zum Leben in Gerechtigkeit und Frieden, verbunden mit der Sorge um die Bewahrung der Schöpfung. Für mich war es damals der Anlass, mich mit ihrer Literatur zu beschäftigen, und es war ihre ausgesprochen schöne Sprache, die mich faszinierte, ihre radikalen politischen Botschaften, die sie jeweils auf biblische Aussagen zurück führte. Ihre Publikationen wurden zum Teil meiner Bibliothek. So nahm ich die Einladung der Katholischen Frauenbewegung Österreich gerne an, mich im Sommer 2017 – gemeinsam mit 180 Frauen – noch einmal „auf die Spuren Dorothee Sölles“ zu begeben. Der Hintergrund dieser Reise nach Köln und Aachen war das 70-jährige Jubiläum unserer (aus Sicht der Evangelischen Frauenarbeit) um 7 Jahre jüngeren römisch-katholischen Schwesterorganisation. Damit erwies die kfb Ö auch eine ökumenische Reverenz an unser Reformationsjubiläum, in dem Dorothee Sölle auch als eine der Reformatorinnen in den letzten fünf Jahrhunderten gewertet wird.

Feministin und Befreiungstheologin

Für mich war es eine gute Gelegenheit mich mit der 2003 verstorbenen Theologin und ihrer Biographie noch einmal tiefer auseinanderzusetzen: Dorothee Sölle, geboren 1929, stammte aus einer gutbürgerlichen Familie in Köln und war das einzige Mädchen unter fünf Geschwistern. Ihre Familie stand im Widerstand zum Nazi-Regime und Dorothee wusste schon als Kind von Verfolgung und Ermordung von Juden. Den Pazifismus hat sie sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Als Studentin beschäftigte sie sich sowohl mit der Existenzphilosophie als auch mit der Theologie. Ihre ersten wichtigen Themen wurden das Gottesbild und der Sündenbegriff. Die evangelische Theologin war der Ökumene gegenüber von vornherein sehr aufgeschlossen, als streitbare Befreiungstheologin und Feministin eckte sie damals auch in ihrer Kirche an. Gleichzeitig bekam ihr Grundsatz dass politisches Engagement und Theologie nicht voneinander zu trennen wären, viel Zuspruch, auch aus nichtkirchlichen Kreisen. Ihr späterer Mann Fulbert Steffensky schreibt in seinem „Nachwort zu einem Leben“: „… Sie konnte weder von den Frommen noch von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz eingefangen werden. Sie erlaubte sich, die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende“.

Politik und Gebet

Dorothee Sölle beteiligte sich persönlich an Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg. Berühmt geworden sind ab 1968 die Politischen Nachtgebete: „Glauben und Beten sowie Politik und Handeln gehören zusammen.“ Unter dieser Devise versammelten sich monatlich viele Menschen in der Kölner Antoniterkirche und zahlreiche Friedensinitiativen gingen von da aus. Das Modell dieser Gottesdienstform wurde zum Vorbild für viele ökumenische Initiativen, nicht zuletzt für die Friedensgebete in der DDR, die letztlich zum Fall der Mauer beitrugen. In Köln konnten wir – im Rahmen einer hochinteressanten Führung durch die Stadt(-Geschichte) – die Antoniterkirche besuchen, heute eine City-Kirche mit einem romanischen Taufbecken und der Barlach-Figur „Der Schwebende“ mit dem Gesicht von Käthe Kollwitz – im Anschluss ein modernes Gemeindezentrum. Die Präsenz Dorothee Sölles in der Stadt Köln repräsentierte für uns die Gemeinde der Christuskirche am Dorothee Sölle Platz: Für die Besuchergruppe wurde von der Gemeinde ein Informationsnachmittag zu ihrer Person gestaltet. Neben dem Bericht einer Mitarbeiterin der ersten Politischen Nachtgebete waren die Erinnerungen von der persönlichen Freundin Sölles, Bärbel Wartenberg-Potter, besonders berührend. Sie hatte mit ihr etliche Publikationen herausgegeben und war mit der Familie eng verbunden. Sie hatte nach dem plötzlichen Tod von Dorothee 2003 auch ihr Begräbnis in Hamburg gestaltet. Ein Nachsatz zum beruflichen Werdegang Sölles: Sie erhielt in Deutschland nie eine Professur. Erst 1994 wurde sie zur Ehrenprofessorin der Universität Hamburg ernannt. Lediglich in Mainz und Basel hatte Sölle befristete Lehraufträge, von 1975 bis 1987 war sie Professorin für Systematische Theologie am Union Theological Seminary in New York. Ihr literarisches und wissenschaftliches Werk darf nicht in Vergessenheit geraten – ihre Aussagen zu Frieden und Gerechtigkeit sind in unserer Zeit aktueller denn je. Ganz abgesehen von ihren wunderbaren Gebeten und lyrischen Texten, die zeitlos geworden sind.

EVELYN MARTIN

(Reformiertes Kirchenblatt 12/2017)