Zwischen Hoffnung und Bangen nach dem Machtwechsel
Der überraschende Machtwechsel in Syrien im Dezember 2024 markiert eine Zäsur für das Land und eine existenzielle Herausforderung für die christliche Minderheit. Die neue Regierung unter Ahmed al-Scharaa, die von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) dominiert wird, hat das Land zwar überraschend schnell unter ihre Kontrolle gebracht, doch die Veränderungen lassen viele Christ:innen in Sorge zurück.
Gesellschaftlicher Wandel: Neue Realitäten im Alltag
Die politischen Umwälzungen haben sich rasch auf den Alltag ausgewirkt. In öffentlichen Verkehrsmitteln wurden getrennte Sitzplätze für Männer und Frauen eingeführt, eine Praxis, die zuvor unüblich war. Nicht-muslimische Frauen müssen in öffentlichen Gebäuden nachweisen, dass sie Christinnen sind, um von der Kopftuchpflicht befreit zu werden. Noch bedrohlicher sind die Auftritte islamistischer Gruppen in christlichen Vierteln, die mit Lautsprechern das islamische Glaubensbekenntnis ausrufen und zur Konversion auffordern. Die Regierung distanziert sich offiziell von solchen Vorfällen und erklärt sie zu Einzelfällen, doch ihre Kontrolle scheint begrenzt.
Protestantische Gemeinden unter Druck
Die presbyterianische Kirche, die zusammen mit dem Libanon eine gemeinsame Synode bildet und in Syrien etwa 2.000 Mitglieder zählt, steht vor besonderen Herausforderungen. Die Situation ist besonders in jenen Gebieten schwierig, in denen mehrere Minderheiten zusammenleben. In Homs, beispielsweise, erlebt die protestantische Schule eine massive Abwanderung ihrer alawitischen Schülerschaft. Rund 200 Familien haben ihre Kinder aus Angst vor Übergriffen abgemeldet und planen die Rückkehr in alawitische Kerngebiete wie Latakia oder Tartus. Diese Entwicklung verdeutlicht die Spannungen, denen nicht nur Christ:innen, sondern auch andere Minderheiten im Land ausgesetzt sind. Ungewiss bleibt auch die Zukunft der reformierten Gemeinden im kurdisch dominierten Nord-Osten des Landes, in dem auch die einzige syrische Pfarrerin tätig ist.
Die Angst, dass Syrien den Entwicklungen im Irak oder in Ägypten folgt, ist groß. Im Irak lebten vor 2003 noch rund 1,4 Millionen Christ:innen, während es heute nur noch etwa 250.000 sind. Ähnlich beunruhigend ist die Lage in Ägypten, wo die Kopt:innen regelmäßig Ziel von Terroranschlägen sind. So wächst in Syrien die Zahl derer, die das Land verlassen wollen. Vor allem gut ausgebildete Fachkräfte wie Ärzt:innen und Ingenieur:innen suchen Zuflucht im Ausland wie beispielsweise in Deutschland, das die Ausstellung solcher Visa erleichtert hat.
Hoffnungsschimmer in einer schwierigen Zeit
Trotz der Unsicherheiten gibt es auch Lichtblicke. Die Preise für Waren sind gefallen, ein Effekt der zurückgegangenen Korruption an Kontrollpunkten. Auch bürokratische Hürden, die unter der früheren Regierung das Gemeindeleben erschwerten, scheinen weniger zu werden. Protestant:innen, die häufig mit westlichen Ländern assoziiert wurden und daher für jede Aktivität und Einladung von Repräsentanten aus dem Ausland eine Genehmigung benötigten, hoffen auf mehr Freiheit und Anerkennung.
Ein Treffen aller Kirchenoberhäupter im Präsidentenpalast sorgte zunächst für Optimismus. Die Regierung betonte, dass Christ:innen ein unverzichtbarer Teil des neuen Syriens seien, und versprach Schutz für alle Bürger. Diese Worte fanden – allerdings nicht ganz ohne Aufforderung durch die Pfarrerschaft – Taten: Während der Weihnachtszeit wurden christliche Viertel auf Bitten der Kirchen abgesichert. Doch viele fragen sich, wie belastbar diese Zusagen in einem Land sind, das von fanatischen Milizen und fehlender Regierungserfahrung geprägt ist.
Ungewisse Zukunft: Eine Minderheit im Spannungsfeld
Die christlichen – und vor allem evangelischen – Gemeinden in Syrien sehen sich einer ungewissen Zukunft gegenüber. Viele hoffen auf einen säkularen Staat, der religiöse Vielfalt gewährleistet, doch die demografische Realität steht dem entgegen: Demokratische Wahlen könnten der sunnitischen Mehrheit, die den Sieg über das vorige Regime als einen Triumph Allahs betrachtet und vorwiegend radikal-islamistische Parteien unterstützt, weiteren Auftrieb geben.
Wird die christliche Gemeinschaft Teil des neuen Syriens sein können, oder wird sie, wie einst die jüdische Gemeinde, aus dem Land verschwinden? Die nächsten Monate werden zeigen, ob die kleinen Hoffnungsschimmer ausreichen, um die Sorgen zu zerstreuen – oder ob ein weiterer Exodus unvermeidlich wird.
Angelo Comino