Neue Hoffnung für Beirut

NEST: Near East School of Theology, Beirut (ev.-theol. Fakultät) © George Shammas

Ruf aller Kirchen: „Verlasst Euer Land nicht!“

Im osmanischen Reich regelte das sogenannte Millet-System den Status der unterschiedlichen nicht-muslimischen Gruppierungen, die sich zunächst als orthodoxe, armenische und jüdische Millet rechtlich, wirtschaftlich und administrativ autonom verwalten konnten. Anfänglich folgte die Gliederung in Millets den islamischen Rechtsbestimmungen für Schutzbefohlene (Dhimmi) mit der einzigen Ausnahme, dass es Griechisch-Orthodoxe und Armenier unterschied. Schließlich beugte es sich dem aufkommenden ethnischen Nationalismus der Moderne. In den sogenannten Tanzimat-Reformen der ersten Hälfte des 19. Jhts. erreicht diese Entwicklung einen Höhepunkt, und das System wurde – nicht ohne Einfluss der europäischen Mächte – auf andere Gruppierungen ausgeweitet. Dank einer gemeinsamen Intervention Großbritanniens und Deutschlands wurde 1848 die Schaffung einer evangelischen Millet gewährt, die Lutheraner, Presbyterianer und Anglikaner umfasste.

Gründungen reformierter Gemeinden

Um 1819 hatten die ersten reformierten Missionare aus Europa und Nordamerika verschiedene Gebiete des osmanischen Reichs erreicht, in denen sie – u.a. im Libanon und in Syrien – eigene Gemeinden gründeten. In denselben Jahren drangen reformierte pietistische Strömungen in die armenisch-apostolische Kirche, die letztlich vom Patriarchat exkommuniziert wurden und sich zu einer selbständigen armenisch-evangelischen Kirche formierten. All diese Gruppierungen überstanden zwar den Niedergang des osmanischen Reichs und die Wirren des folgenden Jahrhunderts, konnten aber ihre Zersplitterung nicht überwinden. So befinden sich heute im Libanon unterschiedliche reformierte protestantisch gesinnte anglikanische Nationalkirchen und einzelne Gemeinden, die in der theologischen Fakultät (Near East School of Theology) in Beirut einen gemeinsamen Ausbildungsmittelpunkt haben. Dort absolvieren derzeit zwei armenisch-evangelische Christen, ein Anglikaner und zwei Reformierte aus der Nationalsynode Syriens und des Libanons ihr Theologiestudium. Aus der Nationalsynode stammt auch Najla Kassab, die zweite evangelische Pfarrerin im Mittleren Osten und aktuelle Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen.

Ökumenisches Zusammenleben

Die ökumenische Arbeit im Libanon und in Syrien ist ein unverzichtbarer Bestandteil des kirchlichen (Über-) Lebens. So half die orthodoxe Jugend bei den Aufräumarbeiten der presbyterianischen Pfarrgemeinde in Hamra im Zentrum Beiruts nach der verheerenden Explosion am 4. August. Die Kooperation lindert nur teilweise die Herausforderungen, die die Wirtschaftskrise und die Pandemie den Menschen, insbesondere den Kirchen, zusetzt, deren Haupteinnahmequelle die zahlreichen, auch von der muslimischen Oberschicht sehr geschätzten Privatschulen sind. Durch die Schulgebühren, die in Dollar bezahlt werden, sichern die Kirchen u.a. notwendige diakonische Dienste, die Stipendien der Studierenden und den Erhalt der Pfarreien. Da allerdings der Wechselkurs sich zusehends verschlechtert und die libanesische Regierung Höchstgrenzen für Abhebungen, die nur in libanesischen Pfund erfolgen dürfen, festlegte, können die meisten Familien das Schulgeld nicht mehr begleichen. Die Lage der mit Rom unierten maronitisch-katholischen Kirche, der größten christlichen Minderheit im Libanon, ist ebenso angespannt: Zwar besitzt sie viel Land, das sie im Laufe der Jahrhunderte von ihren Gläubigen als Schenkung erhalten hat, kann aber angesichts der Wirtschaftskrise dieses nicht veräußern bzw. verpachten.

Die Explosion am Hafen Beiruts

Das war genau das, was die Stadt am wenigsten nötig hatte. Die Leere des Schocks unmittelbar nach der Katastrophe konnten die Einwohner zunächst noch mit viel Energie füllen. Die Proteste gegen das gegenwärtige System wurden in den sozialen Medien immer stärker fortgeführt, mitunter auch mit dem Humor, für den die Libanesen und Libanesinnen in der arabischen Welt berühmt sind.
Alle schienen das Chaos und die Angst mit den vielen Dingen, die sofort erledigt werden mussten, zu verdrängen: Vermisste wurden gesucht, Trümmer geräumt, die Scherben mussten zusammengekehrt werden. Allmählich wurde aber allen klar, dass sie immer noch die Trümmer des Bürgerkriegs räumten und den hinterlassenen politischen Scherbenhaufen kehrten. So machten sich die Alltagsmüdigkeit und die altbekannte administrative Untätigkeit wieder breit. Dagegen halfen auch nicht die unzähligen NGOs, die sofort aktiv wurden und von denen viele auch ebenso schnell verschwanden. Dagegen half auch nicht das Militär, das in einem heuchlerischen Akt der politischen Selbstdarstellung die Zerstörung der Gebäude begutachtete, aber es auch bei dieser Fleißarbeit bleiben ließ. Und dagegen half auch nicht der Besuch eines französischen Präsidenten, der halb drohend, halb bemutternd Reformen verlangte, die – und das weiß jede Libanesin und jeder Libanese – nie realisiert werden. Letztendlich weiß niemand, wie diese Reformen aussehen könnten, denn die Freunderlwirtschaft beruht auf den gut begründeten Ängsten der Bevölkerung, von den jeweiligen anderen religiösen bzw. ethnischen Gruppierungen entmachtet zu werden.

Religiöse Zersplitterungen

Die auf die Kontinuität des politischen Alltags bedachten Führer (Za’im) sind nach einer kurzen Pause alle wieder im Amt und führen das Karussell der leeren Versprechungen fort. Dem religiös zersplitterten Land bleibt also nichts anders übrig, als mangels Alternativen wieder auf die vermeintliche Sinneswandlung der eigenen Führer zu hoffen, die sich fleißig ihre Stimmen wieder zurückkaufen: Wer das Zollamt kontrolliert, sichert sich die Gunst der eigenen Wählerschaft durch den Zugang zu verbilligter, überlebenswichtiger Ware in den eigenen Bezirken; wer über den Wohnungsmarkt herrscht, wird den Obdachlosen der Explosionskatastrophe billigere Behausungen vermitteln. Hier zeigen zumindest die sunnitischen, schiitischen und drusischen Gruppierungen etwas mehr Einheit und Zusammenhalt, zu denen die in zahlreichen politisch unbeständigen Parteien zersplitterten Christinnen und Christen nicht fähig sind.

„Verlasst euer Land nicht!“
Die wichtigste Frage bleibt am Ende unbeantwortet: Was soll nun aus ihnen werden? Die Gräben des Gemetzels des Bürgerkriegs sind noch tief. Soldaten patrouillieren immer noch vor der evangelischen Fakultät. Durch den kleinsten gemeinsamen Nenner „Krise“ kann schnell die Situation dekliniert werden: Flüchtlingskrise (jeder 7. Einwohner ist ein Flüchtling), Wirtschaftskrise, Covid-Krise, politische Krise. Trotz der zahlreichen Spenden und der vielen Bemühungen um einen raschen Wiederaufbau, der auch langsam stattfindet, ertönt unermüdlich von den Kanzeln aller Kirchen dieselbe eindringliche Bitte: Verlasst das Land nicht! Die Predigten stoßen bei den jungen Generationen auf taube Ohren und die international gut vernetzten und gut ausgebildeten Christinnen und Christen suchen gemeinsam mit ihren im Ausland lebenden Familien legale Wege zur Emigration.

Angelo Comino