Karl Marx’ Anfrage an die Christen

Karl Marx, © Ph. J. L. Charmet, Archives Larbor


Zum 200. Geburtstag von Karl Marx

Über Karl Marx (geb. 5. Mai 1818 in Trier; gest. 14. März 1883 in London) zu sprechen ist in unserer Zeit nicht einfach, weil viele ihm gegenüber in zweifacher Hinsicht voreingenommen sind: Ers¬tens wegen seiner Religionskritik, obwohl er dem Atheismus keine zentrale Bedeutung beimisst. Zweitens wird er als Urheber für das Unrecht der sowjetischen und der sozialistischen Systeme verantwortlich gemacht. Das wäre allerdings so, wie wenn man Jesus für die Gräueltaten der Kreuzzüge, der Religionskriege, der Inquisitionen, etc. verantwortlich machen würde. Ungeachtet all dessen ist Marx einer der bedeutendsten Denker der modernen Zeit, der die Nachwelt, also auch die Christen, anregt und herausfordert.

Es ist wichtig zu wissen, dass es bei Marx’ Religionskritik nicht primär um die Religion ging, sondern um eine Gesellschaft „deren geistiges Aroma die Religion ist“. Da die Religion aber nur vom Erdulden und vom Trösten lebe, „ist sie das Opium des Volkes“– sie lähme das Volk, mache das Elend einfach erträglich, ohne dessen Ursache anzugehen.

„Religion ist Opium des Volkes“
(Karl Marx)

Diese Religionskritik wurde in einer speziellen historischen Situation geboren, in der Kirchlichkeit und Glaube dazu dienten, den Menschen in Demut und im Trost zu stärken, aber von sozial aufrührerischen Bestrebungen fern zu halten. Marx machte seine Kritik explizit an der lutherischen Theologie fest. Er verwies auf Luthers Ambivalenz, die Freiheit von der Knechtschaft nicht durch ein Ende der Knechtschaft herbeiführen zu wollen, sondern durch eine herbeizitierte innere Freiheit.

Lebenspraxis

Bereits diese amputierte Freiheit erinnert an die vom evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer kritisierte Vorstellung von einem „Lückenbüßergott“: „Die Religionen sprechen dann von Gott“, schreibt Bonhoeffer, „wenn mensch¬ liche Erkenntnis zu Ende ist, oder wenn menschliche Kräfte versagen“. Dort soll er es richten, von außen eingreifen.

Nach Bonhoeffer ist die ¬ Gottesfrage nicht eine isolierte dogmatische Frage, sondern die Frage nach der Lebenspraxis als „Dasein für andere“. Die primäre Antwort auf die „Gottlosigkeit“ in der Welt ist nicht eine theoretische Argumentation, sondern Lebensgestaltung. „Nicht der religiöse Akt macht den Christen zum Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben“.

Radikal

In Entsprechung sagt Marx: „Radikal sein ist: die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“. Die Radikalität von Karl Marx bestand darin, dass er die Erscheinungen nicht an der gesellschaftlichen Oberfläche, sondern an der tieferliegenden Wurzel lokalisierte. Für den Marxismus waren das: Entfremdung, Privateigentum, Ausbeutung und Klassenkampf. Diese Wurzel sieht für Christen und Christinnen natürlich anders aus – aber grundsätzlich ist es immer das menschliche Miteinander, was in den Focus genommen wird.

„Radikal sein ist: die Sache an der Wurzel fassen.
Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“
(Karl Marx).

Die Vertreter der Befreiungstheologie und auch die religiösen Sozialisten haben die biblischen Geschichten mit dem Instrumentarium der Marx’schen Gesellschaftsanalyse beleuchtet und dabei die Entdeckung gemacht, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Entrechteten und Armen eine der zentralen und wesentlichsten Aussagen der biblischen Frohen Botschaft sind. Das motivierte Theologen und Verantwortungsträger in den Kirchen, die gegenwärtige Gesellschaft ebenfalls im Lichte der Marx’schen Gesellschaftsanalyse zu betrachten und zu bewerten. Es geht dabei nicht um eine Theologisierung des Marxismus und auch nicht um eine Marx’sche Verfärbung der Bibel, sondern um eine zuverlässige, die Verhältnisse klar beleuchtende Analyse. Um diese Bemühungen herum sind etliche bedeutende kirchliche Stellungnahmen entstanden, die die gesellschaftliche Lage berücksichtigen und daraus die Konsequenzen ziehen.

Konsequenzen

Ich möchte dafür nur zwei Beispiele anführen:
Das erste Beispiel ist das „Darmstädter Wort“ aus dem Jahr 1947, ausgearbeitet von einer Gruppe aus der deutschen Bekennenden Kirche. „Wir sind in die Irre gegangen“, bekennen sie, „weil wir das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen haben“.

Das zweite Beispiel dafür ist das „Bekenntnis von Accra“, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen aus dem Jahr 2004. Darin wird in Übereinstimmung mit der biblischen Botschaft festgestellt: „Das unmenschliche Wirtschaftssystem des Imperiums schützt nur die eigenen Interessen … Darum sagen wir „Nein“ zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, wie sie uns vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird. „Nein“ aber auch zu allen anderen Wirtschaftssystemen – einschließlich der Modelle absoluter Planwirtschaft –, die Gottes Bund verachten, indem sie die Notleidenden, die Schwachen und die Schöpfung in ihrer Ganzheit der Fülle des Lebens berauben.“

„Die Philosophen haben die Welt
nur verschieden interpretiert,
es kommt darauf an, sie zu verändern.“
(Karl Marx)

Marxistische Gesellschaftsanalyse verhilft den Kirchen in gesellschaftlichen Fragen zu einer klareren und solidarischen Sicht.

Wohin wir gehen

Die auf die Gegenwart konzentrierte Marx’sche Utopie erinnert Christen daran, dass das Reich Gottes mit seiner Fülle wohl an die Wiederkunft Christi gebunden, aber als „Anzahlung“, wie der Apostel Paulus formulierte, bereits jetzt gegenwärtig ist. Die Marx’sche Philosophie der Praxis mahnt Christen an ihre Mission, aufgrund der befreienden Botschaft ¬ Gottes Zeugen der Nächstenliebe zu sein und für Verhältnisse einzutreten, die Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Solidarität verwirklichen. Schon die Bibel kannte die strukturellen, nicht persönlichen Formen der Nächstenliebe, die eine Veränderung bewirken.

An einem Punkt sitzen Christentum und Marxismus in einem Boot: beide haben verhältnismäßig spät die Verantwortung für die Natur und die Umwelt entdeckt. Auch andere aktuell brennende Fragen stehen noch an, wie die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und das Bemühen um die weltweite Schließung der Kluft zwischen Arm und Reich. Marxisten und Christen bringen hier in ihrem Bemühen um eine Humanisierung der Welt unterschiedliche, von ihrer unterschiedlichen Herkunft herrührende Visionen ein, die aber der einen gemeinsamen Sache dienen. Es ist nämlich nicht das Entscheidende, woher jemand kommt, sondern wohin er geht: in Richtung einer menschenfreundlichen oder in Richtung einer menschenverachtenden Welt.

BALÁZS NÉMETH