Die Welt stürzt ein – Casca il mondo

Österreich nach den Friedensbestimmungen von St. Germain und Trianon © Ed. Hölzel

Der Zusammenbruch der Donaumonarchie und seine Auswirkungen auf die Reformierte Kirche in Österreich

„Casca il mondo“ (die Welt stürzt ein), so mochte wohl der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrates A. u. H.B. Wolfgang Haase empfunden haben, als er am 30. Oktober 1918 in der letzten Sitzung des Herrenhauses gewissermaßen an der Bahre der Donaumonarchie Platz zu nehmen hatte.

Cisleithanien und Transleithanien

Seit 1911 war Haase der juristische Präsident der Evangelischen Kirche in Cisleithanien, die von Aussig an der Elbe im Norden bis Pula im Süden, von Czernowitz im Osten bis Bregenz im Westen reichte und insgesamt 291 Pfarrgemeinden mit knapp 590.000 Mitgliedern umfasste. Das entsprach einem Prozentsatz von 2 %. Sie war gegliedert in neun Superintendenzen, fünf A.B., drei H.B. (Österreich, Böhmen, Mähren) und eine A. u. H.B. (Galizien). Das Hof- und Staats-Handbuch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für das Jahr 1918 klärt auch über die Gliederung der Kirche in Transleithanien auf, also im Königreich Ungarn. Hier war die Reformierte Kirche mit mehr als 2,6 Millionen Mitgliedern in mehr als 2000 Gemeinden die größte (12,6 % der Bevölkerung), gefolgt von der Evangelischen Kirche A.B. mit 1,3 Millionen in mehr als 900 Gemeinden (6,4 %) und der Evangelischen Kirche A.B. in Siebenbürgen, die ihr Zentrum in Hermannstadt hatte und in 260 Kirchengemeinden mit ca. 226.000 Mitgliedern praktisch die ganze sächsische Nation ausmachte.

„Liquidation der österreichischen Kirche“

Im Laufe des Oktober 1918 sagten sich, motiviert durch die Aussage des amerikanischen Präsidenten Wilson vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die Völker des Vielvölkerreiches von Österreich-Ungarn los. Der übrig gebliebene Rest war Österreich, kaum lebensfähig, weil von den Zentren der Nahrungsmittelindustrie abgeschnitten. Auch für die Evangelische Kirche bedeutete der Zusammenbruch ein völliges Desaster, denn ihre Schwerpunkte lagen nunmehr im Ausland, jene der Kirche H.B. in der neugegründeten Tschechoslowakei. Dem Präsidenten des Oberkirchenrates oblag es, die Liquidation der altösterreichischen Kirche durchzuführen, eine Pflicht, die ihn in eine tiefe Depression stürzte. Er musste sich den Ausdruck von der „liquidierenden obersten Kirchenbehörde der in Auflösung befindlichen und zum Teile schon aufgelösten bisherigen (…) Landeskirche A. u. H.B.“ förmlich abringen. Er kannte seine Kirche wie kein zweiter, denn sein Vater und sein Großvater hatten kirchenleitende Aufgaben in Teschen/Schlesien und Lemberg/Galizien wahrgenommen, beide waren auch Mitglieder des Herrenhauses und verbanden ihre liberale politische Einstellung mit einer tiefen monarchischen Gesinnung, die auch den letzten k. k. Präsidenten des Oberkirchenrates auszeichnete.

Weiter ohne k.k.

In dem desaströsen Umbruch, als allenthalben die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche erhoben wurde, klammerte sich Haase an die noch geltenden Gesetze der Monarchie, an das Protestantenpatent von 1861, und forderte im Interesse der Rechtskontinuität die Fortgeltung dieses Rechtsdokuments als staatsrechtliche Grundlage des kirchlichen Wirkens. Da nahm er auch gerne in Kauf, dass der ehemalige k. k. Oberkirchenrat ohne kakanisches Emblem im republikanischen Gewand als Staatsbehörde fortbestand. Das Portrait des Kaisers in seinem Dienstzimmer blieb ohnedies weiter hängen. Die Stimmen, die auf eine Auflösung der engen staatskirchlichen Bindung hinarbeiteten, konnten sich nicht durchsetzen, erst 1939 wurde im Zuge der Entkonfessionalisierung der Ostmark der Oberkirchenrat entstaatlicht. Für die Kirche H.B. bedeutete der Umbruch 1918 den Verlust von neun Zehntel des früheren Umfangs.

Oberwart brachte den Umschwung

Der 78jährige Superintendent Otto Schack richtete am 16. August 1919 ein deprimiertes Schreiben an seine verbliebenen Gemeinden, dass die Wiener Superintendenz H.B. „nicht mehr aufrecht zu erhalten sein dürfte“ und veranlasste die beiden Vorarlberger Gemeinden Bregenz und Feldkirch zu Überlegungen, sich der Oberösterreichischen Superintendenz A.B. in Wallern anzuschließen. Erst der Anschluss einer traditionsreichen reformierten Gemeinde in Oberwart brachte einen Umschwung und verstärkte das konfessionelle Selbstbewusstsein, dem Pfarrer Johann Karl Egli auf der ersten Synode der Kirche H.B. am 22. April 1925 Ausdruck verlieh: „Wir sind nicht ein Annex, ein Hinterstübchen des österreichischen Protestantismus, sondern die Vertreter einer Weltkirche in Österreich. Wir sind ein Teil eines großen Ganzen: unserer reformierten Welt.“ Wenige Tage zuvor hatten die Vorarlberger Gemeinden ihr Gesuch um Aufnahme in die oberösterreichische Superintendentur zurückgezogen.

Karl W. Schwarz
Ao. Univ.-Prof. für Kirchengeschichte