Die dritte Reformation – Reformation der Flüchtlinge

Ein Interview mit Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes in Deutschland.

Das Zeitalter der Reformation hat verschiedene Perioden. Nach der Periode der Reformation von Oben, von der Obrigkeit, die stark die lutherische Reformation prägte, folgte die Periode der Reformation der vor allem oberdeutschen Städte und abschließend die Reformation der Flüchtlinge, der Refugees, wie der niederländische Kirchenhistoriker Heiko Oberman hervorhebt. Was kennzeichnet diese Reformation der Refugees und wer sind die prägenden Köpfe?

Achim Detmers: Anders als in lutherischen Territorien waren die Protestanten in Frankreich, den Niederlanden und England massiven Verfolgungen ausgesetzt. Sie waren ›Kirchen unter dem Kreuz‹. Durch diese Erfahrung hatten sie eine kritische Distanz zu den Obrigkeiten, von denen die Verfolgung ausging. Sie setzten sich für Gewaltenteilung und Demokratie ein und sahen die gesellschaftliche Verantwortung für Verarmte und Verfolgte. Trost fanden sie in den Lehren von der Vorsehung und der Erwählung. Calvin, der selbst aus seiner Heimat vertrieben wurde und in Genf im Exil lebte, ist der führende Kopf dieser Reformation der Flüchtenden und Geflohenen.

Wie schlägt sich die Flüchtlingserfahrung in deren Theologie und Frömmigkeit nieder? Wie zeigt sich das beispielsweise in den Kommentaren und Predigten von Johannes Calvin oder in der Gestaltung des Gottesdienstes?

Wer täglich mit der Gefahr lebt, wegen seines Glaubens getötet zu werden, der braucht eine starke Zuversicht, um das aushalten zu können: Nicht der Inquisitor bestimmt über das Heil meines Lebens, sondern das hat Gott schon vor aller Zeit getan. Auch wenn es jetzt dunkel aussieht, so hat Gott die Möglichkeit, daraus etwas Gutes zu machen, auch wenn ich das schwer glauben kann. In Genf kam noch ein weiteres hinzu: Durch die große Zahl der Flüchtenden war es eine große Herausforderung, die Konflikte im Gemeindeleben zu bewältigen. Für Calvin war es deshalb wichtig, auf innergemeindliche Disziplin zu drängen. Man verwendet dafür auch das Wort ›Kirchenzucht‹. Doch das klingt zu sehr nach ›Zuchthaus‹, was überhaupt nicht gemeint ist. Es geht Calvin um Erziehung zu einem christlichen Leben, um den ernsthaften Versuch, trotz der regelmäßigen Erfahrung des Scheiterns, die zehn Gebote für das eigene Leben zur Grundlage zu machen. Nicht um damit vor Gott besser dazustehen, sondern um dem Bund, in den Gott uns mit der Taufe schon hineingenommen hat, gerecht zu werden. Calvin ist deshalb einer der ganz wenigen Theologen, die die fünf Bücher Mose mit den zahlreichen Vorschriften komplett ausgelegt und immer wieder in den Predigten zugrunde gelegt haben. Überhaupt spielt das Alte Testament für die Reformation der Flüchtenden eine große Rolle. Die dort gesammelten Flucht- und Exilserfahrungen waren hilfreich, um die eignen Erfahrungen zu reflektieren. Nicht umsonst haben die Psalmen im Gottesdienst eine große Rolle gespielt. Der Gottesdienst selbst ist bei den Refugees deutlich anders gestaltet. Es geht dort weniger um Heilsvermittlung durch einen Priester, sondern um die Feier der in Christus Versöhnten, um Dank, Erinnerung, Gemeinschaft, um Bekenntnis und Hoffnung. Und immer wichtiger wird ihnen, dass es in ihrem Gottesdienst keine ›Hierarchien‹ (›heilige Rangordnungen‹) geben soll: Das Heilsgeschehen spielt sich auf Gemeindeebene ab, nicht an einem erhöhten Altar. Altes und Neues Testament sind gleichbedeutend. Auch Wort (Predigt) und Sakrament (Abendmahl) sind gleichrangig. Trotz wichtiger Bekenntnisse bleibt die Herausforderung zum aktuellen Bekennen. Sonntäglicher Gottesdienst und Gottesdienst des Alltags gehören zusammen. Diese Skepsis gegenüber Hierarchien wird in der Kirchenordnung durch das presbyterial-synodale Prinzip zum Ausdruck gebracht.

Der Flüchtling Johannes Calvin war von Beruf studierter Jurist. In seiner Theologie macht sich auf vielfältige Weise die Dimension des Rechts bemerkbar. Wie schlägt sich das in Bezug auf die Flüchtlinge nieder?

Für Calvin war wichtig, dass Gottes Recht und Gerechtigkeit auch für die Gestaltung des christlichen Gemeinwesens der Maßstab sein sollen. Nicht um eine ›Gottesherrschaft‹ zu errichten, wie ihm zu Unrecht vorgeworfen wurde, sondern um das menschliche Miteinander nach der Maßgabe Gottes zu gestalten. Und das bedeutete für Calvin im Blick auf die Flüchtenden, dass Gott diese Menschen, die in der Regel alles verlorene hatten, unter seinen besonderen Schutz gestellt hatte. Sie sollten deshalb die gleichen Rechte und rechtlichen Ermessensspielräume haben wie Einheimische. Sie sollten Asyl genießen und vor Willkür geschützt werden. Und besonders wichtig war Calvin, dass es den Flüchtenden gegenüber eine Gerechtigkeitspflicht gab – Anrecht auf ein Existenzminimum, gerechten Lohn und finanzielle Unterstützung zum Aufbau eines selbstbestimmten Lebens durch zinsgünstige Kredite. Calvin mahnte angesichts der Not sogar zu zinslosen Krediten.

Wie wirkt sich die Erfahrung von Flucht im Verhältnis zu Verfolgung christlicher Gruppen oder Juden, und der theologischen Wahrnehmung aus?

Man könnte denken, dass eigene Verfolgung Menschen sensibler macht für die Verfolgungserfahrungen anderer. Bei Calvin kann man das in einer seiner frühen Schriften durchaus beobachten. Gleichzeitig führt Verfolgung häufig auch dazu, sich von anderen (vielleicht ›zurecht‹) Verfolgten zu distanzieren, um die eigene Rechtgläubigkeit unter Beweis zu stellen. Aus der anfänglich empfundenen Nähe kann dann schon große Distanz werden. Bei Luther sind es die sog. ›Bilderstürmer‹, von denen er sich klar distanziert, bei Zwingli die Täufer, bei Calvin die Antitrinitarier. Das Verhältnis zum Judentum hat sich erst mit der Aufklärung spürbar verändert. In der Reformationszeit gab es nur sehr wenige, die in den Juden gleichberechtigte Glaubensgeschwister gesehen haben.

Diakonisches Handeln prägt seit den Anfängen des Christentums kirchliches Handeln. Wie schlägt sich, angesichts des vielfachen Erleidens von Flucht, von Verlust der Heimat, von Sicherheit, von Verarmung, von Leiden, im Verständnis und in der Praxis von Diakonie im 16. Jahrhundert nieder? Wie wird der Andere, der Verarmte, der Entwurzelte wahrgenommen?

Calvin hat in der Genfer Kirchenordnung das Amt des Diakons eingeführt. Dieser war zuständig für die Armenkasse (der Flüchtlinge) bzw. für die Speisung und Pflege der Bedürftigen und Kranken. Auch eine ›Fremdenherberge‹ wird in der Kirchenordnung genannt sowie die medizinische Versorgung der Armen und Bedürftigen. Für mittellose Kinder wurde Schulunterricht vorgeschrieben, damit sie den christlichen Glauben lernen und mit Hilfe ihrer Bildung aufsteigen konnten. All diese Aufgaben gehörten für Calvin zu einer Kirche, die wirklich Kirche sein will. Im Heidelberger Katechismus, Frage 103, wird die Kollekte für die Armen und Bedürftigen sogar zum Kennzeichen eines rechten Gottesdienstes erklärt.

Unsere Zeit heute in Europa ist stark von Flucht und Migration aus vielen Ländern, von Menschen mit den verschiedensten Religionen geprägt. Die Flüchtlinge werden nicht selten als die Fremden, die Anderen empfunden und ausgegrenzt. Was wäre angesichts der Erfahrung von Flüchtlingsexistenz in der Reformationszeit dem heute entgegenzusetzen?

Da brauchen wir nicht bei der Reformation ansetzen. Hier reicht es eigentlich, das biblische Wort aus Lev. 19,33f zu hören: „Und wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrängen. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.“

Wie positioniert sich der Reformierte Bund, deren Generalsekretär Sie sind, zum aktuellen Flüchtlingsthema angesichts der historischen Erfahrung?

Als die vielen Menschen Ende 2015 zu uns nach Europa kamen, war uns ziemlich schnell klar, dass die Situation nicht nur eine diakonische Herausforderung ist, sondern auch eine theologische. In unserer Grundsatzerklärung „Flucht und Exil“ vom April 2016 haben wir deutlich festgehalten, dass die Kirche von den in Europa eintreffenden Flüchtenden unmittelbar auf ihr Wesen und ihre Bestimmung angesprochen wird. Es handelt sich nicht um eine die Kirche nur von außen treffende ethische Herausforderung. Vielmehr steht in dieser Frage für die Kirche immer auch ihr eigenes Kirchesein auf dem Spiel.

Abschließend noch eine Frage zur Theologie in Aufnahme eines Zitates von Calvin. In seiner Vorrede zur Olivetanbibel schreibt er über Gott in seinem Verhältnis zum Volk Israel: „Er hat sie auf ihrer Flucht Tag und Nacht begleitet, (selbst) wie ein Flüchtling in ihrer Mitte weilend.“ Gott als Flüchtling. Eine pointierte Aussage. Schlägt sich das in der Theologie heute noch angemessen nieder?

Calvin hat das in den Monaten geschrieben, als er selbst unter Lebensgefahr Frankreich verlassen musste. Im Alten Testament fand er den tröstenden Gedanken, dass Gott inmitten seines wandernden Volkes anwesend ist. Dies hat Calvin kombiniert mit Jesu Worten aus dem Gleichnis vom Weltgericht Mt 25,35f: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ Da können Sie mal sehen, was für ein begnadeter Theologe Calvin war.

Das Interview mit ACHIM DETMERS
führte PETER BROCKHAUS