Der Christ als Grenzgänger

Regenbogenparade 2014 auf der Wiener Ringstraße
Regenbogenparade 2014 auf der Wiener Ringstraße

Statement für „Pride Prayer“ – Ökumenischen Gottesdienst anlässlich der Regenbogenparade in Maria am Gestade am 17. Juni 2016

30.08.2016 – Von meiner Jugend an habe ich immer wieder geografische, kulturelle und sprachliche Grenzen überschritten. Dabei habe ich mich stets bereichert erlebt durch neue Begegnungen, neue Erkenntnisse, neue Einsichten und durch die Erweiterung meines eigenen Horizonts. Und seit jeher habe ich mich daran gehalten, was ich später bei dem großen evangelischen Theologen Paul Tillich gelesen habe: „Die Grenze ist der eigentliche fruchtbare Ort der Erkenntnis“.

Begegnung

Das Überschreiten von Grenzen ist aber nicht nur eine Sache äußerer Bewegung, sondern es spielt sich vor allem im Kopf ab. Denn der Mensch wird zum wahren Menschen erst durch die Begegnung mit dem Mitmenschen diesseits und jenseits verschiedener Grenzen.

Viele gemeinschaftliche Festivitäten sind an solchen Schnittstellen des Lebens entstanden, die man in der Fachsprache „Übergangsriten“ nennt – wie Taufe, Hochzeit, Beerdigung etc. Die- se Übergangsriten helfen, Ängste vor dem Neuen zu überwinden, und gleichzeitig machen sie Mut, das Neue zu wagen. Es wäre vielleicht eine gute Idee, bei den Bemühungen um die Integration von Fremden auf adäquate gemeinschaftliche Formen der Übergangsriten zurückzugreifen.

Angst

Heute weht leider ein gewaltiger Wind gegen Entgrenzung, gegen Offenheit,
gegen die
Verbindung mit
dem Fremden und dem Anderen. Damit wird aber ein Stück vom wahren Mensch-sein abgetötet. Der Schrei nach Mauern, Zäunen und befestigten Grenzanlagen wird immer lauter. Die armen Grenzen können nichts dafür, dass sie verschandelt und ihrer ursprünglichen Bedeutung als Orte der Begegnung entfremdet werden.
Treibende Kraft dahinter ist die Angst vor dem Verlust des eigenen Wohlstands und des christlichen Erbes. Hier liegen die Keimzellen für Engherzigkeit, emotionaler Kälte und Misstrauen. Offenheit und Nächstenliebe werden so auf dem Altar der Ängste geopfert.

Mitmensch

Gott hat aber Engherzigkeit in Offenheit, Misstrauen in Zutrauen und Kälte in Wärme verwandelt, weil Jesus Christus Mensch geworden ist, um das Trennende zwischen Himmel und Erde, zwischen Oben und Unten und zwischen Gott und Mensch niederzureißen. Darum konnte der Apostel Paulus von der Einheit in Christus sprechen, die die Unterschiede religiöser, gesellschaftlicher, kultureller, nationaler und sozialer Art relativiert. Die Linie des Apostels fortführend könnte man sagen, dass Menschen unterschiedlicher Sprache, Hautfarbe, Kultur und sexueller Disposition einander Schwestern und Brüder sind durch die in der grenz- übergreifenden Liebe Jesu gegebene Einheit und Zusammengehörigkeit. Das heißt, Christen sind bewusste Grenzgänger der Solidarität und der Menschenfreundlichkeit.

Das ist sicherlich eine große Herausforderung, weil sie von uns die Aufgabe jeglicher Überheblichkeit und Anmaßung fordert, die so tut, als ob wir die absolute Wahrheit in der Hand hätten. Der Apostel Paulus schrieb in seinem Hymnus von der Liebe, dass unsere Sicht der Dinge nur Stückwerk ist. Die klare Sicht erhielten wir erst, wenn wir vor dem Angesicht Gottes stehen werden. Wenn wir dies unser Stückwerk-Dasein ernst nehmen, dann fällt es uns nicht schwer, als bewusste Grenzgänger in die Schuhe der Anderen zu schlüpfen.

Und weil Gott uns in Jesus Christus von aller Engherzigkeit befreit hat, können wir mit dem Psalmisten sprechen: „Mit meinem Gott springe ich über Mauern“ (Psalm 18:30).

Beitrag von Pfr. i.R. Balázs Németh