Bergamo im Würgegriff der Corona-Pandemie

Abschiedsgottesdienst am Friedhof in Bergamo in Zeiten der Pandemie. Foto bereitgestellt von Winfrid Pfannkuche

„Ungeahnter Appetit auf das Wort Gottes und Solidarität aus aller Welt“

Die italienische Provinz Bergamo befand sich viele Wochen im Würgegriff der Corona-Pandemie. Winfried Pfannkuche, Pfarrer der Waldensergemeinde in Bergamo mit 250 Mitgliedern, hat mit seiner Familie all dies miterlebt. „Der Schreck sitzt tief in den Gliedern der Gemeinde, die Spuren sind noch sichtbar vor aller Augen“, sagt er im Interview mit unserem Redakteur Angelo Comino.

Angelo Comino: Winfried Pfannkuche, wie geht es Ihnen?

Winfried Pfannkuche: Gut, danke. Komischerweise habe ich das Covid-19-Virus nicht gehabt. Meine Frau und zwei meiner Kinder hatten es, und wir haben doch in der lockdown-Zeit in Bergamo auf engstem Raume zusammengelebt und uns gegenseitig Mut gemacht. Natürlich ist diese Zeit auch an mir nicht spurlos vorüber gegangen, ganz im Gegenteil. Sagen wir mal so: die menschliche Verunsicherung ist größer geworden, aber gleichzeitig ist die Gewissheit im Glauben nicht kleiner geworden.

A.C.: Sie sind Pfarrer der Waldensergemeinde in Bergamo. Der Protestantismus in Bergamo hat eine für Italien außergewöhnliche Geschichte.

W. P.: Seit dem 16. Jahrhundert waren Protestanten in Bergamo ansässig, und dies ohne eine besondere Verfolgungsgeschichte wie in anderen Teilen Italiens. Bergamo war der äußerste westliche Vorposten der Republik Venedig. Während im benachbarten Mailand die spanische Inquisition wütete, genossen die Bergamaschi eine mildere Religionspolitik. Die Venezianer wollten nicht auf den Handel mit den Schweizern verzichten. Aus Zürich kamen Protestanten in die Stadt, davor Vertriebene aus dem italienischsprachigen Tessin. Auch französische Hugenotten lebten hier, bis es Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Einwanderung aus dem Engadin kam: Calvinistische Familien, die ihr Glück mit der Seidenraupe und dem Textilgeschäft in Bergamo machten. Von ihnen war immer jemand im Stadtrat und setzte entscheidende soziale Akzente für das Wohl der Stadt. Allerdings brauchte es schon einen Napoleon, um 1807 die Gemeinde offiziell zu gründen, die aber erst im Klima der Revolution von 1848 wirklich frei wurde. 1876 wurde unsere Kirche im Herzen der Stadt errichtet. Im 20. Jahrhundert haben noch zwei weitere Einwanderungen stattgefunden: seit den 70er Jahren aus Süditalien und Ende der 80er aus Afrika. Etwa ein Viertel der Gemeinde ist heute afrikanischer Herkunft. Seit 1934 ist unsere Kirche fest in der Waldenserkirche verankert. Unsere Gemeinde zählt heute ein paar hundert Gemeindeglieder; wir leiten ein Altersheim und haben unseren eigenen Friedhof. Der ökumenische Dialog und das Eingebundensein in die Stadt sind so intensiv, dass ein großer Volkspark 2017 „Parco Martin Lutero“ getauft wurde.

A.C.: Wenn ich an Corona und Bergamo denke, dann habe ich allerdings ein anderes Bild im Kopf: Militär-Lkws, die Särge in andere Städte abtransportieren. Wie ist es dazu gekommen?

W. P.: Diese Frage bewegt heute viele Gemüter, auch die so geplagten wie die der Angehörigen der vielen Opfer. Ein Prozess läuft, um die Verantwortung von Staat, Region und Kommune zu klären. Es ist wichtig, dass alle Wahrheit und Verantwortung ans Licht kommt, aber die Jagd auf Schuldige ist auf längere Sicht kein gutes Heilmittel gegen den Schmerz der Trauer. Vieles ist noch ungeklärt, aber irgendwie hat das Virus in Bergamo einen guten Wirt gefunden: dicht besiedelt, viele Pendler, viele alte Menschen, hohe Luftverschmutzung, wirtschaftlicher Verkehr vieler Betriebe vor allem mit China. Und das Gesundheitssystem, das so plötzlich unter der Last der neuen Herausforderung zusammengebrochen ist. Da war vorher viel gespart und privatisiert worden, aber vor allem ist die medizinische Erstversorgung in letzter Zeit umständlicher geworden, das Netz der Hausärzte zeigte Risse, seit Jahren sind wir für alles gleich zur Unfallstation ins Krankenhaus gefahren. Da sah man auf einmal in Bergamo eine Schlange von fast fünfzig Krankenwagen im Stau. Hinzu kommt, dass ja gerade die Krankenhäuser die ersten Ansteckungsherde waren. Viele brachten ihre Lieben gar nicht mehr ins Krankenhaus, denn da hätte sie nur noch eine Morphinspritze erwartet. Andere starben, weil sie ihren Platz im Krankenhaus jüngeren und gesünderen Menschen überlassen mussten. Sie wurden mit einer Sauerstoffflasche nach Hause geschickt, die vielleicht noch ein oder zwei oder auch nur einen halben Tag reichte. Dann zurück ins Krankenhaus, um fern von ihren Lieben zu sterben. Tausende von meist älteren – aber nicht nur älteren – Menschen sind so ganz allein, ohne jede menschliche oder seelsorgerliche Begleitung gestorben. Ganz besonders schlimm war es in den Altersheimen: Da gab es z.T. keine medizinische Versorgung mehr, weil das Personal selbst erkrankt war. Nach den Krankenhäusern sind natürlich auch die Friedhöfe kollabiert. Die Militärtransporte der Särge haben sicher ein Bild in den Herzen der Menschen in aller Welt hinterlassen.

A.C.: Wie erging es Ihrer Pfarrgemeinde?

W. P.: In unserem Altersheim sind 25 von 60 Gästen gestorben. Etwa zehn Menschen, Gemeindeglieder oder unserer Gemeinde sehr Nahestehende, sind durch Covid ums Leben gekommen. Viele wussten lange Zeit gar nicht, wo ihre Toten waren und wo sie – auch wenn das nicht ihrem Willen entsprach – eingeäschert wurden. Trotz dieser Situation und obwohl das kirchliche Leben in dieser Zeit ausfiel, wurde es dennoch unerhört intensiv: letzte Worte und Gebete am Telefon, ständige Begleitung, Meditationen, Gedichte, Gesangbuchlieder, Bachkantaten auf WhatsApp, Hausgottesdienste in der Familie, Skype- und Zoomgottesdienste und -Versammlungen. Ein ungeahnter Appetit auf das Wort Gottes, geradezu ein kleines Erweckungserlebnis. Und vor allem Anteilnahme, Solidarität aus aller Welt: Kirche fand vielleicht nicht statt, aber die Gemeinschaft der Heiligen war deutlich zu spüren.

A.C.: Eine solche Situation hinterlässt Spuren. Mit welchen Herausforderungen ist nun Ihre Gemeinde und sind Sie als Pfarrer konfrontiert?

W. P.: Der Schrecken sitzt tief in den Gliedern der Gemeinde, die Spuren sind noch sichtbar in aller Augen: In den Sommermonaten feiern wir Gottesdienst im Freien, auf dem Friedhof, auf dem sich an einem bestimmten Punkt das Auge in den vielen neuen Gräbern verliert, alle vom März 2020. Hier die Auferstehungsbotschaft klar und deutlich zu verkündigen, ist vielleicht für den einen oder anderen ein wichtiger erster Schritt in der Trauerarbeit. Wahrscheinlich werden wir vom 20. September an, ein sinnfälliges Datum in Italien, das dieses Jahr auf 150 Jahre zurückblickt, wieder in unsere Kirche zurückkehren. Keine großen Ambitionen und Veränderungen, wir wollen nicht von der Situation „profitieren“. Es war eine Wüstenzeit: Die Wüste waren wir nicht aufgefordert zu lieben, sondern einfach zu durchqueren. Das Virus ist eine theologische und seelsorgerliche Herausforderung, weil es wie die Angst oder die Sorge zu einem Götzen werden kann, besonders dann, wenn es einen so stark mitgenommen hat. Man denkt, sagt und tut nur noch das, was es und das ganze Drumherum betrifft. Das erste Gebot immer wieder klar, gewiss und lebendig herausstellen: unser Herr Jesus Christus, der uns aufnimmt und es mit uns aufnimmt. Das Naheliegende, das Einfache, das Wesentliche ist wohl zu tun: Das Gemeindeleben wiederherstellen, sich wieder zusammenfinden – haltet fest an der brüderlichen Liebe (Hebräer 13,1).

Das Interview mit Pfarrer Winfried Pfannkuche (Bergamo) führte Angelo Comino

Pfarrer Winfried Pfannkuche ist seit mehr als 20 Jahren Pfarrer der Waldenserkirche in Bergamo. Reiche Schweizer Kaufleute haben diese internationale Gemeinde 1807 gegründet und im Stadtzentrum Anfang des 20. Jahrhunderts die Kirche gebaut. Gottesdienstsprache ist Italienisch. Man versteht sich als missionarische Kirche. Pfannkuche: „Wir sind eine Kirche offen für alle, gastfreundlich. Das Evangelium ist gastfreundlich!“ Und es überwindet alle Sprachbarrieren.